Biographien Eugenie Schwarzwald
(Dr. Eugenie (genannt Genia) Schwarzwald, geb. Nussbaum)
geboren am 4. Juli 1872 in Polupanowka, Galizien (Ukraine)
gestorben am 7. August 1940 in Zürich
österreichische Schulreformerin, Pädagogin und Schulgründerin, Lehrerin, Philanthropin
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
[Vorbemerkung der Redaktion: Dieser Text von 2012 ist eine Rezension des Buches von Deborah Halmes über Eugenie Schwarzwald (s.u., Bibliographie). Er lässt sich aber auch sehr gut als Biographie lesen.]
Sie war voller Ideen, begabt mit phantastischer Energie und dem Mut, ihre Projekte auch ohne die Genehmigung der Bürokratie in Angriff zu nehmen. Sie gründete Schulen, die Mädchen den Zugang zu höherer Bildung und nach vielen Kämpfen auch zur Universität ermöglichten, praktizierte Koedukation, verbot das Tragen von Korsetts in ihren „Anstalten“ und trug selbst untaillierte Kleider – Dinge, die vor hundert Jahren großes Aufsehen erregten. Eugenie Schwarzwald gründete Erholungsheime und öffnete ihr Haus für Prominente wie Bedürftige. Sie bekämpfte die Armut mittels Gemeinschaftsküchen in Wien und Berlin, gab Kurse an den neu gegründeten Volkshochschulen, vermittelte und initiierte Fortbildungskurse aller Art – in Ökonomie, Musik, Tanz oder Architektur und zur Vorbereitung für ein Studium an der Universität, auch wenn das für Frauen vorerst nur als Gasthörerin möglich war. Exzentrisch, willensstark und umgeben von anderen klugen, einfallsreichen, begabten Menschen entwarf Genia Schwarzwald ständig neue Projekte. Nebenher hat sie diverse Formen von Unterricht, Hilfsaktionen, Vereine und nicht zuletzt Freundschaften organisiert und vermittelt, war Vorbild, Anregerin und Mittelpunkt eines regen geselligen Lebens. Die Liste derer, die im Wien der Jahrhundertwende und in den 1920er Jahren zu ihrem engeren Kreis und zu den Neuerern in Musik, Literatur, Architektur etc. gehört haben, umfasst so ziemlich die gesamte Kulturgeschichte dieser Jahre. Sie förderte Arnold Schönberg, Oskar Kokoschka, Alfred Loos, Rudolf Serkin und viele andere Künstler, Musiker, Schriftsteller der Wiener Moderne, als sie noch verrufen und angefeindet waren. Ihre Wohnung in der Josefstädter Strasse 68 war Treffpunkt, Zuflucht und Organisationszentrum, sie selbst wurde mehrfach zu einem Sujet der Literatur. Ihre pädagogischen Experimente haben Reformer inspiriert, die – zumindest außerhalb Wiens – bekannter geworden sind, als die Frau, die drei Generationen emanzipierter Frauen erzogen hat, unter anderen Hilde Spiel, Marie Jahoda oder Helene Weigel. Wobei erziehen nicht das richtige Wort ist, Schwarzwald wollte nicht er-ziehen, sondern Bedingungen schaffen, damit die Kinder ihre Talente entfalten, sich geistig und auch körperlich frei bewegen, bilden und selbständig urteilen können. Schon dieses Konzept war für die k.k. Schulbehörden ein Affront, Schwarzwald eröffnete Hunderten Mädchen und jungen Frauen den Zugang zu einer zuvor versperrten Welt. Wie viele andere Frauen hatte sie in Zürich studiert, weil nur die dortige Universität Frauen zum Studium zuließ. Hundert Jahre später ist zwar der Hochschulzugang für Frauen normal, aber wenn man liest, welche Ideen für das Erlernen von Freiheit in Schwarzwalds Schulen probiert und praktiziert wurden, möchte man ob der Rückschritte in Depression verfallen.
„Vieles von dem, was Schwarzwald tat – unterrichten, trösten, motivieren, anfechten, verköstigen, bekleiden – zählt eher zum reproduktiven als zum produktiven Bereich und galt damit für viele zeitgenössische Schriftsteller und Künstler von vornherein als minderwertig“, schreibt Deborah Holmes und versucht zu erklären, warum Schwarzwald in der Literatur zum Wiener Fin de Siècle nur als Nebenfigur vorkommt. Daraus leitet sie ihr Programm ab – es gelte, Kontexte aufzudecken und das Privatleben zu berücksichtigen. „Jahrzehntelang haben Historiker darüber debattiert, was genau das Wiener Fin de Siècle ausmachte, jenes gleichzeitige Auftreten revolutionärer Neuerungen in […] Literatur, Kunst, Philosophie, Psychologie und Politik zwischen 1890 und 1910“; Holmes sieht eine der Ursachen in der Reibung „zwischen dem von Grund auf konservativen Establishment der Stadt und den ehrgeizigen Einwanderern“, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in großen Wellen eintrafen, und findet „die Schwarzwalds passen perfekt in dieses Schema“.
Robert Streibel hat 1996 einen Band mit Interviews ihrer Schülerinnen herausgegeben, Renate Göllner hat 1999 ihre Dissertation über Eugenie Schwarzwald veröffentlicht, es gibt Radiosendungen und Aufsätze, Lexikoneinträge auf Papier und im Netz sowie mehr und weniger boshafte literarische Skizzen über diese „Diotima“, die Robert Musil, Elias Canetti, Karl Kraus und andere porträtiert oder parodiert haben. Trotzdem reicht ihr Ruhm über Wien kaum hinaus, wie meine Stichprobe bei einigen Fachleuten ergab: Selbst die Direktorin der Hochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin, die sich intensiv mit Frauenerziehung und Schulreformen auseinandersetzt, kennt sie nicht. Ein Grund dafür mag sein, dass Schwarzwald eine Praktikerin war und kaum theoretische Schriften hinterlassen hat; die haben, auf der Basis ihrer Experimente, zum Beispiel Männer wie Otto Glöckel formuliert.
Deborah Holmes hat auf fast 350 Seiten alles zusammengetragen, was auffindbar war, Briefstellen, Lehrpläne, Standesamtsregister, Adressbücher, Memoiren und Augenzeugenberichte. In ihrer Biographie erscheint Eugenie Schwarzwald wie ein Kraftwerk, das die noch recht bornierte Welt vor und nach dem ersten Weltkrieg mit Intelligenz, Kunst, Freiheit und Emanzipation versorgt hat. Das Buch beginnt mit dem Anfang, dem Leben in einer kleinen Ortschaft Ostgaliziens, in der Eugenie Nussbaum „in den Urwäldern Polens“ wie ihre Freundin, die dänische Schriftstellerin Karin Michaëlis, idyllisierte, 1872 geboren wurde und endet mit dem elenden Tod im Exilland Schweiz. Die Protagonistin selbst hat diese Herkunft nicht gerade verschwiegen, aber ins Dunkel gerückt; es gibt kaum Material über die Kindheit und frühe Jugend der „Fraudoktor“, wie sie unter Freunden später genannt wurde. Die ersten Kapitel sind eine kleine Kulturgeschichte des jüdischen Lebens am Rande der Habsburgermonarchie, und man merkt der Autorin an, wie sehr diese Zeit, die Gegend und das jüdische Leben sie faszinieren. Holmes trägt alles zusammen, das sich irgendwie zur Rekonstruktion dieser Kindheit eignen könnte. Man erfährt viel über Czernowitz, wohin die Familie zog und wo Genia zur Schule ging. Diese Passagen sind mangels Material gespickt mit häufigem „vielleicht“, „möglicherweise“, „es ist vorstellbar“ und Thesen, mit denen sie die Kraft und Modernität dieser außergewöhnlichen Frau zu erklären versucht. „Wahrscheinlich ist“, um eine andre dieser gern benutzten Absicherungen zu zitieren, dass die Verfasserin der Faszination des Materials erlegen ist. Wir erfahren, welche Seminare Genia in Zürich besucht und welche Noten sie bekommen hat, welche Vorträge über Gottfried Keller (ihr Lieblingsautor und Dissertationsthema) sie wo hielt, mit wem sie sich getroffen und wer „möglicherweise“ Einfluss auf sie ausgeübt hat.
1900 wurde Fräulein Nussbaum zur Dr. phil. promoviert, im gleichen Jahr hat sie Hermann Schwarzwald geheiratet, der wie sie aus Galizien stammt und eine eindrucksvolle Karriere im Handelsministerium und im Bankwesen machen wird, bei den Friedensverhandlungen in Versailles eine wichtige Rolle spielt und sie intellektuell und finanziell immer unterstützt hat. Neben seiner hochinteressanten Biographie erfahren wir auch noch, wo sein Klumpfuss und sein Spitzname (Hemme) herkommen könnten.
Die Beiden ziehen nach Wien, in das Zentrum des großen, wachen, von „Spannungen und Neuerungen der Jahrhundertwende“ geschüttelten Habsburgerreichs, in dem neben Kämpfen zwischen Nationalitäten und politischen Lagern, literarischen und künstlerischen Richtungen, alten und neuen Eliten nicht zuletzt um Bildung für Mädchen und Schulreformen gestritten wurde. Die Schulgründungen, der Stand der Pädagogik, die Situation der Frauen im allgemeinen, Mode, Kleidung, Sitten und die Hindernisse, die überwunden wurden, sind ausführlich recherchiert ,und man erfährt viel Interessantes und Überflüssiges über die Personalpolitik der Schulgründerin, Anträge und Behördenwillkür – die Tricks und die Chuzpe, mit der Eugenie Schwarzwald die Hürden einer schwerfälligen autoritären Bürokratie nahm, wäre einen eigenen pädagogischen Kurs für künftige Reformerinnen wert. Während des Ersten Weltkriegs widmet sich Schwarzwald diversen Wohlfahrtsprojekten, in der Zwischenkriegszeit, also im Roten Wien, werden dann viele ihrer pädagogischen Experimente von den sozialdemokratischen Reformern (die heute berühmter sind als sie) aufgegriffen. All das, der spannende Freundeskreis, die Konflikte, die Feste im Haus und später auf dem Landsitz samt Netzwerken, die sich aus den Begegnungen bei den Schwarzwalds entwickelt haben, ergibt neben der Biographie auch ein Bild der Zeit von der Jahrhundertwende bis 1940, Schwarzwalds einsamem Tod.
Selbstredend spielen „das Jüdische“ und notgedrungen auch der damit verbundene spezifisch österreichische Antisemitismus (inklusive antisemitischer Ausfälle konvertierter Juden) eine wichtige Rolle. Jüdische Eltern standen einer akademischen Karriere ihrer Töchter wohlwollender gegenüber als nichtjüdische. Über ein Drittel der Bildungsanstalten für Mädchen wurden von Jüdinnen errichtet; von 15 Mädchenlyzeen waren fünf in jüdischem Besitz und 45,8 % aller Lyzeumsschülerinnen in Wien waren – bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 9 % – jüdisch. In Berlin waren bei einem Bevölkerungsanteil von 4 % – sogar 20 % aller Schülerinnen Jüdinnen, lese ich bei Renate Göllner. Das Ehepaar Schwarzwald ist beispielhaft für Aufstieg und Fall der jüdischen Mittelschicht, das zeichnet Holmes bis in die feinsten Verästelungen nach – einschließlich der Weigerung, die Realität nach 1938 wahrzunehmen, bis die Hausfreundin Marie Stiasny, Genias Sekretärin und Hemmes Geliebte, im letzten Moment die Flucht arrangiert.
Nicht jedes Zitat aus Karl Kraus' Schriften, die auf Genia Schwarzwald gemünzt sein könnten, aus Inspektorenberichten oder Briefen von Bekannten an Bekannte, Todesdaten ihres Professors und Empfindung ihrer Mitarbeiterinnen bereichern das Buch, eine energische Lektorinnenhand hätte das Vergnügen der Leserin erhöhen können. Es ist erstaunlich und bewundernswert, was Holmes alles zusammengetragen hat, auch ist das Buch keine Hagiographie, es finden sich kritische Bemerkungen über die Eitelkeit und das Liebesbedürfnis der Heldin, ihre Selbststilisierung und Widersprüchlichkeit oder Argumente für ein „Profitieren durch Wohltätigkeit“, das ihr auch von Kritikern und Feinden, die es reichlich gab, vorgeworfen wurde.
Holmes hat, wie aus ihrer Danksagung hervorgeht, am Ludwig Boltzmann-Institut gearbeitet, es ist also eine Forschungsarbeit, was ihre Detailversessenheit erklären könnte. Warum aber polemisiert sie gegen Renate Göllner, wo sie doch auffallend oft dieselben Stellen zitiert, aber immer nur die von Göllner angegebene Quellen und nicht die Verfasserin dieser Pionierarbeit von 1999 angibt? Ist es Zufall, ist es Plagiat oder wissenschaftlicher Usus? Wohin ist die Schule 1914 umgezogen, als Alfred Loos die neuen Räume plante und einrichtete? Laut Göllner war es ein Umzug in die Herrengasse, bei Holmes ist es die Wallnerstrasse. Wissenschaftlich betrachtet stimmt da irgendetwas nicht. Und was mag es bedeuten, dass sich die Autorin bei allen möglichen Leuten bedankt, nicht aber bei der Frau, die 13 Jahre früher eine wissenschaftliche Arbeit über Eugenie Schwarzwald geschrieben hat. Gab es Eifersüchteleien? Ich habe kein Material und keine Beweise, aber es könnte sein, vielleicht und vermutbar, dass sich mit dem Zugang von Frauen zum akademischen Leben dessen wadelbeißerische Riten nicht verändert haben.
(Text von 2012)
Verfasserin: Hazel Rosenstrauch
Literatur & Quellen
Devime, Ruth & Ilse Rollett. Hg. 1994. Mädchen bevorzugt: Feministische Beiträge zur Mädchenbildung und Mädchenpolitik.Verband Wiener Volksbildung.
Göllner, Renate. 1999. Kein Puppenheim. Genia Schwarzwald und die Emanzipation. Europäische Hochschulschriften, Peter Lang, Frankfurt/M.
Herdan-Zuckmayer, Alice.1981 [1979]. Genies sind im Lehrplan nicht vorgesehen. Frankfurt/M. Fischer TB 5092.
Holmes, Deborah. 2012. Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald. Residenz Verlag St. Pölten-Salzburg-Wien.
Kratzer, Hertha. 2001. Die großen Österreicherinnen: 90 außergewöhnliche Frauen im Porträt. Wien. Ueberreuter.
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