Biographien Elisabeth Winterhalter
(Dr. med. Elisabeth Hermine Winterhalter)
geboren am 17. Dezember 1856 in München
gestorben 13. Februar 1952 in Hofheim am Taunus
deutsche Gynäkologin, erste Chirurgin Deutschlands, Frauenrechtlerin
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Ich entstamme einer Ärztefamilie.
So beginnt Elisabeth Winterhalter im Jahre 1929 ihre Autobiografie – mit einem Satz, der es in sich hat. Dieser Satz erfüllt keine Formalität, dieser Satz ist Programm, ist Überschrift eines lange erkämpften, eroberten und überaus erfolgreichen Berufslebens. Sich in die Kette ihrer Ahnenreihe einzureihen, war für Winterhalter nicht nur motivierend und identitätsstiftend, sondern vor allem die Begründung und Berechtigung dafür, es den Vorfahren gleich tun zu dürfen: Arzt bzw. Ärztin zu sein. Bekenntnis, Bestimmung und Selbstbestimmung sind in diesen vier Worten zusammengefasst!
Wie zum Beweis führt sie die ihr vorangegangenen Ärzte der Familie an: ihren Urgroßvater Ehrhard Winterhalter, „Hofmedicus und Medizinalrat unter dem Kurfürsten Karl Albrecht“, ihren Großvater Franz de Paula Winterhalter, „Stadt- und Landsgerichtsphysikus in Landsberg am Lech“ und schließlich ihren Vater Georg Winterhalter, praktischer Arzt und Chirurg und einer der Gründer des heutigen Klinikums rechts der Isar. Und zuletzt nennt sie ihren Bruder Leopold, der als Arzt in Havanna, New York City und zuletzt in München tätig war.
Elisabeth wurde als letztes von dreizehn Kindern geboren, zehn von ihnen überlebten das Kindesalter. Ihre Mutter war Elisabeth von Garr, eine Rittergutsbesitzerstochter aus dem Bayrischen Wald, ihr Vater der bereits erwähnte Georg Winterhalter. Mit Stolz erwähnt Elisabeth Winterhalter in ihrer Autobiografie, dass er sich „…mit dem von seiner Mutter ererbten Temperament …der Freiheitsbewegung des Jahres 1848 anschloss“… und „sein mannhaftes Autreten für seine politische Überzeugung mit Geld- und Freiheitsstrafen büßen“ musste (Autobiografie E. Winterhalter, in: Görner, Dokumente und Materialien - im weiteren zitiert als DuM – S. 34).
An Temperament und Mut wird es Elisabeth ihm später gleich tun.
Elisabeth wurde in ihrer frühesten Kindheit der im Haus lebenden Großmutter Anna von Garr anvertraut, die allerdings dem anspruchsvollen und eigenwilligen Kind nicht gewachsen war. So entlief die vierjährige Elisabeth auf einem Spaziergang der Großmutter, die ihr viel zu langsam ging, und wurde erst Stunden später wiedergefunden. Da sie auch sonst nicht gehorchte, wurde sie zu einer Tante in Landsberg/Lech geschickt. Tante Aloysia hatte eine Ausbildung als Lehrerin genossen, sie sollte nun Elisabeth in Handarbeiten, Deutsch und Französisch unterrichten und ihre pädagogischen Fähigkeiten zum Wohle Elisabeths einsetzen. Ihr erging es allerdings nicht anders als der Großmutter. Oft wurde sie so zornig auf das widerspenstige Kind, dass sie es mit dem hohen Stiefel schlug, den sie an ihrem verkrümmten Fuß trug. Als die Tante 1863 verstarb, wurde Elisabeth zurück nach München geschickt, wo sie ihre Schulbildung fortsetzte. Mit 123 Schülerinnen war sie in einer einzigen Klasse, der Unterricht dauerte von 8 – 10 Uhr. Danach fanden der Nach- und Privatunterricht statt, an dem Elisabeth nicht teilnehmen durfte. Der Vater war der Ansicht, dass diejenige, die den Stoff in der normalen Zeit nicht aufzunehmen vermöge, dies auch nicht im Nachunterricht könne. Elisabeth war klug genug, sich alles in der kurzen Zeit aneignen zu können. 1867 schickte der Vater seine begabte Tochter auf eine Privatschule für höhere Bildung mit dem Schwerpunkt auf Fremdsprachen.
Sein Tod im darauffolgenden Jahr bedeutete für Elisabeth nicht nur einen schweren Verlust, sondern gleichzeitig das Ende ihres Aufenthaltes in der Privatschule. Der bayrische Kultusminister Franz von Greßer, Schwiegervater ihres ältesten Bruders Leopold, wurde ihr Vormund und brachte sie im Institut der Salesianerinnen unter, einer klösterlichen Erziehungsanstalt mit gutem Ruf in Beuerberg bei Tölz, wo sie bis 1872 blieb. In Beuerberg herrschte ein strenger Geist, der wachen und kritischen Elisabeth aber entging die Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und wirklichem Verhalten der Nonnen nicht. Sie verweigerte die geforderte Unterwürfigkeit, was ihr einiges an Ungerechtigkeiten einbrachte.
Trotzdem wurden die Jahre in Beuerberg zu einem lebenslangen Gewinn, als sie in der Klosterfrau Mater Marie Karoline Staubwasser nicht nur eine hervorragende Lehrerin kennenlernte, sondern auch eine aufrechte Frau. Diese Nonne war streng, aber gerecht, sie war klug und scharfsinnig, offen und vertrauenswürdig. In ihrer Autobiografie beschreibt Elisabeth Winterhalter sie so:
Meine Lehrerin in den deutschen Fächern war eine wohlunterrichtete Nonne, Marie Karoline Staubwasser, eine ernste Persönlichkeit von hervorragender Wahrhaftigkeit, die mich diese seltene Eigenschaft für mein ganzes Leben hochschätzen lehrte.
Mit ihr blieb Elisabeth Winterhalter zeitlebens in Verbindung, selbst nachdem sie bereits 1920 aus der katholischen Kirche ausgetreten war. Als Mater Marie Caroline im Jahr 1919 ihr goldenes Professjubiläum feierte, schrieb ihr Elisabeth Winterhalter:
Ihrer, geliebte ehrwürdige Mutter, gedenke ich in unauslöschlicher Dankbarkeit. Sie waren für meine Klosterzeit, ja für mein ganzes Leben wahrhaft Gottes Segen. Meine tiefe Verehrung für Ihre makellose Persönlichkeit, Ihre Frömmigkeit, Ihre Wahrhaftigkeit, Ihre ernste Strenge in Ihren Forderungen gegen sich selbst und Ihre Schülerinnen, Ihr unbeirrbares Pflichtgefühl ließen mich meinen Aufenthalt in Beuerberg…als ein großes Glück empfinden. …oft frage ich mich, wie ohne Ihren segensvollen Einfluss meine Lebensführung sich gestaltet hätte…Ihr Wandel vor Gott und uns Schülerinnen gaben mir feste Richtung und es erfüllt mich noch heute, 46 Jahre nach meinem Austritt aus Beuerberg, mit tiefster Dankbarkeit, dass ich unter Ihrer Leitung unvergängliche Lebenswerte erfassen und festhalten konnte. (DuM, S.22).
Ihre ärztliche Familientradition sowie die Beziehung zu dieser Klosterschwester sind Voraussetzung und Basis für Elisabeth Winterhalters persönliches und berufliches Selbstverständnis und für ihren späteren Lebensstil. In Mater Marie Karoline findet sie das Vorbild und Rollenmodell, das ihr bis dahin keine Frau geben konnte. Ihre innere Haltung, ethische Einstellung als Ärztin sowie ihr späteres Engagement in der Frauenbewegung haben hier ihre Wurzeln und sind ohne die Orientierung an dieser Frau nicht zu verstehen.
16 Jahre alt war Elisabeth Winterhalter, als sie Beuerberg verließ, nun stand eine Berufsausbildung an. Die Familie Winterhalter war fortschrittlich und forderte emanzipierte Töchter, die in der Lage sein mussten, sich selbst durchzubringen.
So besuchte Elisabeth Winterhalter von 1872 – 1874 das königliche Kreislehrerinnenseminar in München – der Lehrerinnenberuf war damals die einzige Möglichkeit für Mädchen, beruflich tätig zu werden. Über ihren nur mittelmäßigen Abschluss mutmaßt ihr Nachfahre Gustav Wulz:
Möglicherweise trug daran auch die Art Schuld, wie sie mit ihren Lehrern umzugehen pflegte. Der Direktor der Anstalt… war zwar in hohem Maße von seiner Aufgabe, gute Lehrer heranzubilden, durchdrungen, aber die ihm dafür zur Verfügung stehenden Lehrkräfte waren dafür ganz und gar ungeeignet, weil ihr Wissen sehr dürftig war. Das hatte die kluge Elisabeth W. sofort erfasst und sie machte sich nun eine Freude daraus, ihre Lehrer durch Fragen, die sie nicht beantworten konnten, beständig in Verlegenheit zu bringen. Dadurch verloren die Lehrer jeglichen Respekt bei dieser Klasse, als deren bösen Geist sie Winterhalter bezeichneten. (DuM S. 26).
1874 wurde sie als Hilfslehrerin in Schwabing angestellt, wo ihr sofort das unbeliebte Unterrichten der 13- bis 15jährigen Feiertagsschülerinnen übertragen wurde, die an Sonn- und Feiertagen zwei Unterrichtsstunden erhielten. Sie wandte einen klugen Trick an:
Es war schwierig, mit diesen schon an Freiheit gewöhnten Mädchen fertig zu werden. Ich half mir damit, dass ich sie mit „Sie“ anredete – das hob ihr Selbstbewusstsein und ich hatte nie über Disziplinschwierigkeiten zu klagen.
Trotz ihrer pädagogischen Erfolge empfand sie wenig Freude an ihrem Beruf. Wahrscheinlich hatte sie bereits Mitte der 1870er Jahre in einem Zeitungsbericht gelesen, dass zwei deutsche Frauen, Franziska Tiburtius aus Rügen und Emilie Lehmus aus Fürth, die medizinische Approbation an der Universität Zürich erlangt hatten. Von da an „wurde meine ererbte Anlage und Neigung für den ärztlichen Beruf in mir geweckt, ich fühlte die Möglichkeiten in mir schlummern, ihn als Lebensberuf zu ergreifen.“ (DuM, S. 36)
Im deutschen Kaiserreich war es Frauen noch nicht gestattet zu studieren, die Universität Zürich aber nahm als erste wissenschaftliche Hochschule schon seit 1840 regelmäßig weibliche Studierende auf, ab 1864 konnten die ersten Medizinerinnen ihr Studium mit der Promotion abschließen. Mutter und Vormund hielten nichts von Elisabeths Idee, doch sie blieb willensstark und hartnäckig, so dass die Mutter 1884 nachgab und sie sich im selben Jahr im Alter von 28 Jahren an der Universität Zürich immatrikulierten konnte.
Sie wollte unbedingt vollwertiges Mitglied des Ärztestandes werden, gleichgestellt in allen Rechten und Pflichten – und eben auch die erste Ärztin in der Familientradition.
Die Herausforderung für die Studienanfängerin war enorm, musste sie doch zusätzlich zum Semesterstoff die Schweizer Maturität nachholen – was ihr offenbar mühelos gelang. Sport war seit Kindertagen ihr Hobby, und mit ihren Kommilitoninnen Anna Kuhnow, Clara Willdenow und Agnes Bluhm unternahm sie Wanderungen, Schlittenfahrten, Boots- und Fahrradtouren – alles bisher tabuisierte Aktivitäten, mit denen die jungen Frauen ihren Anspruch auf Gleichberechtigung demonstrierten.
In seinen Memoiren erwähnt der Schriftsteller Gerhart Hauptmann nur kurz Elisabeth Winterhalter, die an seinen Diskussionsnachmittagen teilnahm, aber die wenigen Worte zeigen eine blitzgescheite junge Frau, die mit Lust gängige Geschlechterrollen ignorierte:
Die schöne, zarte und überaus kluge Person besaß eine männliche Eigenschaft, nämlich sie rauchte schwere Zigarren. (Hauptmann 1962, zitiert nach Bianca Walther: Die Ärztin, der die Frauenbewegung vertraute, Internet-Artikel).
Im Sommer 1885 lernte Elisabeth Winterhalter über die Mitstudentin Agnes Bluhm ihre Lebensgefährtin, die drei Jahre jüngere Malerin Ottilie Roederstein, kennen. Roederstein lebte den größten Teil des Jahres in Paris, wo sie bereits ein eigenes Atelier führte. Nur die Sommer verbrachte sie bei ihrer Familie in Zürich – auch um AuftraggeberInnen zu akquirieren. Winterhalter erzählte später, sie habe Ottilie Roederstein am 31. 7. 1885 bei einem Picknick getroffen. Diese sei damals schon als Schweizer Künstlerin sehr beachtet gewesen, sie – Winterhalter – sei Roederstein anfangs mit einer gewissen Scheu begegnet, aber Roederstein sei ihr sogleich mit herzlicher Liebenswürdigkeit entgegengetreten. Ihre gewinnende Art im Kontakt mit anderen habe sie schnell ihre Scheu überwinden lassen. Nach der Rückkehr aus den Ferien hätten sie dann eine enge Freundschaft geschlossen, die sich in eine spätere Lebensgemeinschaft vertieft habe.
Ab 1887 kann von einer Liebesbeziehung und Partnerschaft der beiden Frauen gesprochen werden, die 50 Jahre lang bis zum Tod Ottilie Roedersteins im Jahr 1937 andauerte.
Ebenfalls im Jahr 1887 verlegte Ottilie Roederstein ihren Lebensmittelpunkt wieder nach Zürich. Ob Elisabeth Winterhalter dafür der Grund war, ist nicht bekannt, hat aber sicher eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Im selben Jahr 1887 malte Roederstein das erste von 27 Porträts von Elisabeth Winterhalter. Die Komposition in ihrer Ähnlichkeit mit den Porträts von Gelehrten der Renaissance ist von Roederstein bewusst gewählt und damit völlig anders als die damals üblichen eleganten und pompösen Damenporträts. In selbstbewusster Kunst drückt Roederstein damit den Anspruch beider Frauen auf Bildung, wissenschaftliche Tätigkeit und Gleichberechtigung in einer patriarchalen Gesellschaft aus. Elisabeth Winterhalter wurde durch ihre Freundin zur meist porträtierten Ärztin im Kaiserreich.
1889 legte Elisabeth Winterhalter nach klinischen Semestern in Bern und Zürich das Staatsexamen ab und promovierte mit einer gynäkologischen Arbeit über „Die Entstehung von Scheidenharnfisteln mit besonderer Berücksichtigung der durch Geburtstrauma bedingten Fälle“. Sie hospitierte und arbeitete an der Pariser Charité, an der gynäkologischen Klinik in München und ließ sich in Stockholm in gynäkologischer Massage ausbilden.
Für die Entscheidung des Paares, 1891 nach Frankfurt am Main überzusiedeln und dort ein gemeinsames Leben zu beginnen, waren die beruflichen Chancen für Elisabeth Winterhalter ausschlaggebend. Auch Ottilie Roederstein sah als profilierte Porträtmalerin gute Auftragsmöglichkeit in der aufstrebenden Stadt. Winterhalter wurde die erste Frauenärztin Frankfurts mit einer niedergelassenen Praxis, und das erstaunlicherweise mit ihrer in Deutschland nicht anerkannten Schweizer Approbation. Zugleich bot Winterhalter Sprechstunden in der von ihr gegründeten Poliklinik für Frauenkrankheiten am Schwesternhaus Bethanien an; kostenlos behandelte sie unbemittelte Frauen im neuen „Krankenpensionat“ des Vaterländischen Frauenvereins.
Winterhalters Praxis für Frauenheilkunde und Geburtshilfe wurde sehr schnell zu einem großen Erfolg; zudem wurde sie von zwei ihr sehr wohlwollend begegnenden männlichen Kollegen, einem Gynäkologen und einem Chirurgen, als Assistentin bei gynäkologischen Operationen hinzugezogen. Als erste Frau in der Geschichte der Medizin nahm sie 1895 eine Laparotomie (Bauchhöhlenschnitt) vor – vermutlich einen „Kaiserschnitt“. Zu Beginn ihrer ärztlichen Tätigkeit, als die Praxis ihr noch Zeit ließ, arbeitete sie mit dem Arzt und Mitbegründer der Universität Frankfurt Ludwig Edinger (1855 – 1918) am Senckenbergischen Institut, in dessen Schriftenreihe sie 1896 die Ergebnisse ihrer Studie „Ein sympathisches Ganglion im menschlichen Ovarium“ publizierte. Winterhalter war nicht nur als Chirurgin, sondern auch als Geburtshelferin tätig: zwischen 1893 und 1899 stand sie beispielsweise der Sozialpolitikerin Henriette Fürth (1861 – 1938) bei mehreren Geburten zur Seite. Eine andere prominente Patientin Winterhalters war die Berliner Frauenrechtlerin Helene Lange (1848 – 1930). Auch sie war mit der Behandlung hochzufrieden. In Winterhalters Nachlass findet sich ein Porträt von ihr mit der Aufschrift: „Eine ungebärdige Patientin bittet um ein kleines Plätzchen“.
Nachdem 1902 auch in Deutschland Frauen das das Medizinstudium gestattet wurde, entschied sich Elisabeth Winterhalter dafür, berufsbegleitend die medizinischen Prüfungen nach den deutschen Zunftvorschriften zu absolvieren, um die rechtliche Anerkennung als Ärztin in Deutschland zu erhalten. Bisher hatte sie gewissermaßen im Status einer Kurpfuscherin praktiziert. Mit 47 Jahren schrieb sie sich an der Uni Heidelberg ein und erhielt 1904 die deutsche Approbation zur Fachärztin für Geburtshilfe und Gynäkologie.
Mehr als ein halbes Jahr hatte ich mich den Prüfungen gewidmet und die Praxis erlaubte mir nachher keine Erholung.
Die Frankfurter Bürgergesellschaft war kulturinteressiert und sozial engagiert, auch hier war aus den traditionellen Frauenwohlvereinen eine aktive Bewegung von Bürgerinnen mit einem überregionalen Netzwerk entstanden. Winterhalter und Roederstein zählten sich zu diesen modernen, selbstständigen Frauen. Beide hatten sich ihre professionelle Ausbildung hart erkämpft, waren äußerst erfolgreich in ihren Berufen, lebten unverheiratet, wirtschaftlich unabhängig, bestens integriert in die führenden Kreise der Stadt und führten einen großbürgerlichen Haushalt mit Personal. Als 1898 eine Ortsgruppe des Vereins „Frauenbildung-Frauenstudium“ gegründet wurde (reichsweit hatte der Verein bereits 1400 Mitglieder) übernahm Winterhalter den ersten Vorsitz und engagierte sich in verschiedenen Vorstandsfunktionen bis 1906 für die Errichtung gymnasialer Mädchenbildung. Ziel des Vereins war es, eine Schulbildung für Mädchen mit Abschluss Abitur samt Berechtigung zum Hochschulstudium zu erreichen. Nach langen Verhandlungen mit der preußischen Regierung, die an einer „Vorbereitung der sogenannten weiblichen Bestimmung“ festhielt, gelang es 1901, privat finanzierte Realgymnasialkurse für 20 Mädchen anzubieten. 1908 wurden die Kurse an das bis heute existierende Schillergymnasium angeschlossen, 1911 legten die ersten sieben Mädchen die Abiturprüfung ab.
Elisabeth Winterhalter gehörte zu den ersten Mitgliedern, als 1903 die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ gegründet wurde. Deren zentrales Anliegen waren die Sexualaufklärung von Jugendlichen und der Kampf gegen die Rechtlosigkeit von Frauen hinsichtlich ihrer persönlichen und körperlichen Integrität.
1907 entschied sich das kämpferisch-kreative Frauenpaar, die Stadt zu verlassen und kaufte in Hofheim am Taunus ein großes Grundstück. Der damals angesagte Architekt Hermann Kopf, Roedersteins Ateliernachbar im Städel-Museum, wurde mit dem Bau eines Landhauses beauftragt. Das Anwesen wurde 1909 bezugsfertig, und bald entstanden neben einem Atelierhaus für Roederstein auch ein Gartenhaus sowie Anbauflächen für gärtnerische Arbeiten. Das Paar und die ebenfalls nach Hofheim umsiedelnde Malerin, Sammlerin und spätere Kunsthändlerin Hanna Bekker vom Rath wurden als Initiatorinnen des Hofheimer Künstlerkreises bald zum Anziehungspunkt für internationale GegenwartskünstlerInnen.
Elisabeth Winterhalter litt inzwischen an einer Gehörerkrankung, konnte nur noch bis 1911 praktizieren und zog sich dann ganz aus dem Beruf zurück. Sie widmete sich der Gartenarbeit, dem großen Netzwerk des Paares und dem Management von Haus, Hof und Kunstgeschäft. Ottilie Roederstein fand in der Hofheimer Zeit zu ihrem eigenen künstlerischen Stil und verriet einmal ihrem Nachbarn, Biografen und späteren künstlerischem Nachlassverwalter Hermann Jughenn:
Ich habe nie Geld, wenn ich solches brauche, gehe ich zum Hans (Hans war Winterhalters Kosename seit ihrer Kindheit). Ich weiß nicht, was ich verdient habe. Ich weiß auch kaum, wohin meine Bilder gekommen sind. Es ist mir auch alles egal.
Die Katastrophe des 1. Weltkrieges verbrachte das Paar einigermaßen gesichert – Ottilie Roederstein schreibt darüber in ihrer Autobiografie:
… das Schweizer Bürgerrecht ... trug ... in den schweren Zeiten des Weltkrieges und in den wirtschaftlich so bedrängten Jahren wesentlich dazu bei, meine und meiner Freundin Existenz zu erleichtern und zu sichern. Ihm dankten wir während des Krieges manche materielle Hilfe, da die Schweiz … ihren in Deutschland lebenden Landsleuten monatlich ein Lebensmittelpaket zukommen ließ… Und in der Inflationszeit … entspannten Schweizer Aufträge unsere pekuniäre Lage. (O. Roederstein in Elga Kern, Führende Frauen Europas, S. 38f.)
1917 errichteten Winterhalter und Roederstein eine gemeinsame Stiftung für notleidende Malerinnen und Maler sowie für die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft in Frankfurt. Das Restvermögen wurde 1952 in die Heussenstamm-Stiftung Frankfurt eingebracht und dem Stiftungsauftrag gemäß verteilt.
Auch in Hofheim brachten sich die beiden Frauen ins gesellschaftliche Leben der Stadt ein. Elisabeth Winterhalter gründete eine Stadtbibliothek, einen Volksbildungsverein und unterstützte ehrenamtlich karitative Initiativen. 1929 würdigte die Stadt anlässlich Roedersteins 70. Geburtstag beide Frauen mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Hofheim „in Anerkennung ihrer großen Kunst, in Würdigung ihrer Verdienste um die Förderung aller künstlerischen Fragen des zivilen und kirchlichen Lebens der Stadtgemeinde Hofheim am Taunus und ihrer Betätigung auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege.“
Das Paar genoss das gemeinsame Leben, zahlreiche Fotoalben zeugen zudem von der lebhaften Reisetätigkeit der beiden Frauen: Algerien, Tunesien, Belgien, England, Spanien, eine Reise rund um das Mittelmeer bis nach Israel sowie Bergtouren in der Schweiz standen auf dem Programm.
Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, waren beide Frauen in ihren achtziger Jahren. Sie waren liberal, nonkonformistisch, hatten internationale Kontakte und zahlreiche jüdische FreundInnen, die unter Repressionen litten und/oder auswanderten. Sie selbst blieben unbehelligt, aber sie mussten erleben, wie die auch von ihnen hart erkämpften Freiheiten für Frauen wieder beschnitten und zurückgenommen wurden.
Besonders Ottilie Roederstein, die bereits an gesundheitlichen Problemen litt, resignierte immer wieder angesichts der politischen Entwicklungen. Elisabeth Winterhalter aber war anders und führte noch 1934 eine scharfe Feder, wenn es um den Kampf für die Rechte der Frau ging, wie eine Erwiderung auf einen Zeitungsartikel zeigt:
Sehr geehrte Frau S…..!
Meine Erwiderung betrifft Ihren Artikel „Volk und Mutter“. Sie schreiben von einer „falschen Frauenbewegung“, die ihr (der Frau) das Bekenntnis zu Opfer und Dienst als dumm und unintelligent gewandelt hat. Eine solche Frauenbewegung hat nie existiert und kenne ich nicht. Wenn solche Behauptungen aufgestellt werden, müssen sie bewiesen werden durch Zitate aus den Bekenntnissen der führenden Frauen der „falschen Frauenbewegung“ und durch Tatsachen. Solche Zitate werden Sie nicht anführen können, denn Sie finden sie nicht……Man hat Ihnen als Referentin über Frauenfragen das Wort gegeben, führen Sie es in unbestechlich wahrhaftigem Sinne auch in Würdigung der falschen Frauenbewegung…. In vorzüglicher Hochachtung… (DuM,S.51).
Im Oktober 1937 reiste Roederstein noch einmal nach Paris. Die Briefe, die sie an Winterhalter schrieb, sind voller Wärme, Zärtlichkeit und neuem Lebensmut. Aber schon im November erlitt sie einen Herzanfall, von dem sie sich nicht mehr erholte. Winterhalter war bei ihr, als sie starb.
Ein Jahr nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin sorgte Elisabeth Winterhalter als Erbin Roedersteins für eine umfassende Retrospektive von deren Werken im Frankfurter Kunstverein und gleichzeitig in der Schweiz. Zusammen mit ihrem langjährigen Nachbarn und Freund Hermann Jughenn (1888 – 1963) richtete Winterhalter im ehemaligen Atelierhaus für die Künstlerin eine Gedenkstätte ein, die bis zur Aufhebung durch die Gestapo 1944 existierte. Jughenn half ihr dabei, das Erbe Roedersteins zu verwalten und begann bereits 1938, seine Erinnerungen an Ottilie Roederstein aufzuschreiben. Gemeinsam mit Winterhalter bearbeitete er unter dem Titel „Aus meinem Skizzenbuch O.W. Roederstein“ den Nachlass über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren. Es gelang eine grundlegende Aufarbeitung von Roedersteins Schaffen. Das entstandene Konvolut dokumentiert etwa 1800 Werke, 1000 Fotografien, dazu Briefe, Reisenotizen und Rezensionen. 2019 wurde das Konvolut von Jughenns Nachfahren als private Schenkung dem Städel Museum übergeben und wird seitdem dort bewahrt, geordnet und wissenschaftlich aufbereitet, um dann in einem Blog des Museums der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stehen.
An ihrem 95. Geburtstag im Dezember 1951 ehrte der damalige Bundespräsident Theodor Heuss (1884 – 1963) Elisabeth Winterhalter für ihre Leistung, die medizinischen Berufe für Frauen zu öffnen:
Wenige Menschen unseres Vaterlandes können auf so viel Geschichte zurückblicken wie Sie, und wenige werden auch von sich sagen dürfen, dass das, was in ihrer Jugend einmal kühne Pionierleistung gewesen ist, nun Frucht getragen hat in der Ausweitung der beruflichen Möglichkeiten für die Frau und in der Sicherung ihres Bildungsstrebens. … Für Sie ist es eine Genugtuung, auf diesem geistigen und kulturgeschichtlichen Entwicklungsweg mit eine der Führerinnen gewesen zu sein. (DuM, S. 92)
Zwei Monate später starb Elisabeth Winterhalter in ihrem Haus in Hofheim und wurde neben Ottilie Roederstein in einem Ehrengrab auf dem Hofheimer Waldfriedhof bestattet.
Sie selbst schrieb in ihrer Autobiografie:
...ich gedenke im Rückblick auf meinen Lebenslauf voll tiefer Dankbarkeit meines Schicksals, das mich Wege führte, die durch ererbte Gaben und durch die Güte, das Wohlwollen und die Treue groß denkender und fühlender Menschen zu einem tätigen und erfüllten Leben sich auswirken durften. (DuM, S. 42f.).
Im Jahr 2022 würdigte Dr. med. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Elisabeth Winterhalter als Vordenkerin, Mutmacherin, Kämpferin für Frauenrechte, als moderne Frau, Managerin und Vermarkterin, als Netzwerkerin und vor allem: als Vorbild für heutige Frauen, die wie Elisabeth Winterhalter ihr Leben so führen wollen, wie sie selbst es entscheiden (DuM, S. 9ff.). Dafür kann Elisabeth Winterhalter mit ihrer außergewöhnlichen beruflichen und persönlichen Emanzipationsgeschichte Motor und Motivatorin sein – denn immer noch brauchen zu viele Frauen Leitbilder wie Elisabeth Winterhalter.
(Text von 2023)
Verfasserin: Christa Matenaar
Zitate
Ich war ohne Neigung für den Lehrerinnenberuf.
Es erwachte in mir der mich nicht mehr verlassende Wunsch, Medizin zu studieren.
So kam es, dass ich 1895, assistiert von einem jungen Frauenarzt, die erste von einer deutschen Frauenärztin vorgenommene Laparatomie unternahm.
Ich hatte stets gewünscht, mich für die Hebung des Mädchenunterrichts einzusetzen.
Ich zog mich nach Hofheim im Taunus zurück, wo meine unwandelbar treue Lebensgefährtin Ottilie W. Roederstein und ich …ein Landhaus erbaut hatten.
Zunächst konnte ich mich nur praktisch betätigen in der Kultur von Blumen in einem kleinen Treibhause und im Freien, dann aber, körperlich erholt, wieder Kunst und Wissenschaft … mit Interesse verfolgen.
Links
Boxhammer, Ingeborg (2023): Winterhalter, Elisabeth H. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), Stand: 16.8.2021.
Online verfügbar unter https://frankfurter-personenlexikon.de/node/1753, zuletzt geprüft am 18.07.2023.
Markus Schnöpf, Oliver Pohl (2023): Ärztinnen im Kaiserreich – Elisabeth Hermine Winterhalter.
Online verfügbar unter https://geschichte.charite.de/aeik/biografie.php?ID=AEIK00780, zuletzt geprüft am 18.07.2023.
München, Landeshauptstadt (2023): Elisabeth-Winterhalter-Weg.
Online verfügbar unter https://stadt.muenchen.de/infos/elisabeth-winterhalter-weg.html, zuletzt geprüft am 18.07.2023.
Städel Blog (2022): Kein Gipfel zu hoch.
Online verfügbar unter https://blog.staedelmuseum.de/roederstein-auf-reisen/, zuletzt geprüft am 18.07.2023.
Walther, Bianca (2023): Die Ärztin, der die Frauenbewegung vertraute: Dr. med. Elisabeth Winterhalter (1856-1952).
Online verfügbar unter https://biancawalther.de/elisabeth-winterhalter/, zuletzt geprüft am 18.07.2023.
Literatur & Quellen
Quellen
Belser, Katharina (Hg.) (1988): Ebenso neu als kühn. 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich. Verein Feministische Wissenschaft Schweiz Zürich. efef-Verl. (Schriftenreihe / Verein Feministische Wissenschaft) ISBN 9783905493016.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Conrad, Bettina (Hg.) (1999): Führende Frauen Europas. Elga Kerns Standardwerk von 1928/1930. München, Basel. E. Reinhardt. ISBN 9783497014804.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Eiling, Alexander, Höllerer, Eva-Maria und Gianfreda, Sandra (Hg.) (2020): frei. schaffend. Die Malerin Ottilie W. Roederstein. Ausstellungskatalog (dt. Ausgabe). Kunsthaus Zürich; Städel Museum Berlin. Hatje Cantz. ISBN 9783775747943.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Görner, Karin (2022): Dr. med. Elisabeth H. Winterhalter. Eine Recherche : Dokumente und Materialien. Herausgegeben von Dagmar Priepke. Frankfurt am Main. Frauenreferat; Deutscher Ärztinnenbund Regionalgruppe Frankfurt.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Priepke, Dagmar (Hg.) (2018): Ottilie W. Roederstein und Elisabeth Winterhalter. Frankfurter Jahre 1891-1909. Heussenstamm-Stiftung Frankfurt am Main. Heussenstamm-Stiftung.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Rök, Barbara (1999): Ottilie W. Roederstein (1859–1937). Eine Künstlerin zwischen Tradition und Moderne ; anläßlich der Ausstellung Ottilie W. Roederstein (1859 - 1937). Eine Künstlerin Zwischen Tradition und Moderne, 21. November 1999 - 16. Januar 2000. Zugl.: Marburg, Univ., Diss, 1997. Buch u. CD-ROM. Marburg. Jonas. ISBN 9783894452568.
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Walther, Bianca (2021): Mein Hans! Deine Tilly. Vortrag Livestream-Aufzeichnung Kunsthaus Zürich am 17.03. 2021.
Wartenberg, Susanne und Sander, Birgit (Hg.) (2013): Künstlerin sein! Ottilie W. Roederstein, Emy Roeder, Maria von Heider-Schweinitz. Ausstellungskatalog. Museum Giersch Petersberg. Imhof. ISBN 9783865689467.
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Weiterführende Literatur
Döringer, Heide (2022): Ottilie W. Roederstein & Elisabeth H. Winterhalter. 1. Auflage. Norderstedt. Books on Demand. ISBN 9783756815647.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Winterhalter, Elisabeth H. (1890): Zur Entstehung der Scheidenharnfisteln mit besonderer Berücksichtigung der durch Geburtstrauma bedingten Fälle. Inaugural-Dissertation. Zugl.: Zürich, Univ., Diss. München. C. Wolf.
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