geboren am 13. September 1877 in Amsterdam
gestorben am 26. Februar 1953 in Muzzano
niederländische Komponistin, Dirigentin, Pianistin, Professorin, Managerin
70. Todestag am 26. Februar 2023
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Solange die männlichen Organisationen, die aus zahlenden Mitgliedern beider Geschlechter bestehen, die Frau als Leiterin in künstlerischen Dingen (…) boykottieren, nimmt man ihr die Existenzberechtigung und schneidet ihr den Lebensfaden ab. (Elisabeth Kuyper)
Elisabeth Kuyper wächst als ältestes von drei Kindern in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Vater ist Angestellter der Abteilung für Betriebswirtschaft der Stadt Amsterdam. Sein Gehalt erlaubt keine großen Sprünge, aber die Familie besitzt ein Pleyel-Klavier, auf dem Elisabeth schon früh musizieren darf. Die Eltern fördern ihre außergewöhnliche Begabung. Als sie 7 Jahre alt ist, erklärt ihr Musiklehrer, dass er seiner Schülerin nichts mehr beibringen kann.
Schon mit zwölf Jahren wird Elisabeth an der Muziekschool van de Maatschappij tot Bevordering der Toonkunst (Musikschule der Gesellschaft zur Förderung der Tonkunst) aufgenommen und erhält Unterricht in Klavier, Gesang, Theorie, Kontrapunkt und Komposition. Siebzehnjährig schließt sie ihre Studien mit Auszeichnung in Klavier und Klavierpädagogik ab, im gleichen Jahr wird ihre einaktige komische Oper Een vrolijke episode uit het Nederlandsche volksleven (Eine fröhliche Episode aus dem Volksleben der Niederlande) in Amsterdam aufgeführt.
Wie der Priester zur Religion, so war ich zur Dienerin der Kunst bestimmt. Ich war ihr geweiht, für sie zu leben, für sie alles zu opfern – Freundschaft, Liebe, Stellung und äußeres Ansehen. Über allem stand die Kunst.
Kuyper setzt ihre Studien ab 1896 an der Berliner Musikhochschule fort. Ihre Enttäuschung über ihre Lehrer ist groß; ein sechsmonatiger Aufenthalt in Düsseldorf verschafft ihr zwar etwas Abwechslung, ändert aber nichts an ihrer Unzufriedenheit. Ihrem Kompositionslehrer fehle die „Urkraft des Temperaments“. Seiner überdrüssig bewirbt sie sich für die Kompositionsklasse Max Bruchs an der Berliner Akademie der Künste. Bruch unterrichtet unentgeltlich. Er akzeptiert nur wenige Schüler, Elisabeth Kuyper wird von da an zu ihnen gehören.
In Max Bruch findet sie einen großen Förderer und Freund. Er hilft ihr, Stipendien bei der niederländischen Regierung zu beantragen, führt ihre Werke auf, ermuntert und unterstützt sie. Dank ihm erhält sie 1908 die preußische Staatsbürgerschaft.
Er kämpfte für das Talent, wo immer er es erkannte, und so kämpfte er für mich wie ein Löwe gegen die Vorurteile, welche der schöpferischen Frau von der Welt entgegengebracht wurden.
Zwischen 1901 und 1905 folgt eine äußerst produktive Phase in Kuypers Leben. Sie komponiert ihre Violinsonate, eine Ballade für Violoncello und Orchester und eine Orchesterserenade. Werke, die an der Berliner Musikhochschule und in den Konzertsälen Deutschlands und Hollands erfolgreich aufgeführt werden. Die Musikkritiker äußern sich überwiegend positiv, tun sich aber schwer, ihre Kompositionen als eigenständige Werke zu betrachten. Worte wie „zahm“, „liebenswürdig“ oder „freundlich und natürlich“ werden in den Rezensionen gebraucht.
Zeit ihres Lebens leidet Kuyper unter den Vorurteilen einer von Männern dominierten Branche.
Frauen konnten doch nicht komponieren!
Ein zermürbender Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung, begleitet von chronischem Geldmangel. Für Musikerinnen, mögen sie auch noch so begabt und besser als ihre Kollegen sein, ist in den Orchestern kein Platz. Eine Kapellmeisterin, eine Intendantin oder eine Direktorin – undenkbar!
Im Jahre 1905 erhält sie endlich die von ihr ersehnte Anerkennung: Als erste Frau bekommt sie das mit 1500 Reichsmark dotierte Mendelssohn-Staatsstipendium der Berliner Akademie der Künste. Drei Jahre später wird sie als erste Professorin für Komposition und Musiktheorie an die Berliner Musikhochschule berufen. Im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen ist sie halbjährlich kündbar und hat keinen Anspruch auf eine Pension. Stets am Rande des Existenzminimums, wird sie einen rund 30 Jahre dauernden Papierkrieg um ihre Rente führen – umsonst!
Und dennoch: Kuyper lässt nicht nach. Sie kann nicht anders. Das Einzige, was sie wirklich interessiert, ist die Musik. Zwischen 1905 und 1907 komponiert sie ihr Violinkonzert, ihr bekanntestes und am meisten gespieltes Werk. Max Bruch persönlich dirigiert die Uraufführung. Der Rezensent der Zeitschrift Die Musik betont, dass die ersten beiden Sätze „ohne das Vorhandensein der Bruch'schen Konzerte fast undenkbar wären“. Ob dieses Urteil auch für einen männlichen Kuyper gegolten hätte, mag dahingestellt bleiben.
In den folgenden Berliner Jahren entdeckt Kuyper ihre Begeisterung und Berufung für das Dirigieren. 1908 gründet sie zwei Chöre, 1910 das Berliner Tonkünstlerinnen Orchester. Hochbegabte Musikerinnen sollen endlich ein adäquates Berufsfeld finden und nicht länger in Cafés, Bars oder Kinos ihr Auskommen fristen müssen. Etwa 65 Musiker:innen zählt das Orchester. Kontrabass, Pauke und Blasinstrumente (außer Flöte) werden von Männern gespielt, der Rest ausschließlich von Frauen. Die Eintrittspreise sind niedrig, auch das Volk soll in den Genuss der Konzerte kommen. In den Medien reagiert man durchweg positiv, finanzielle Subventionen bleiben dennoch aus.
Verzagt und völlig erschöpft muss Kuyper Ende 1912 ihr Orchester auflösen:
„Ich habe (…) mein Herzblut für diese Sache gegeben. Was das heißen will, ein derartiges Unternehmen ohne Fonds aus dem Nichts zu stampfen und es mehrere Jahre zu halten, sein eigener Dirigent, Geschäftsführer, ja sogar Orchesterdiener zu sein, während man noch als weitere Beschäftigung das Amt einer Lehrstelle für Theorie und Komposition mit 18 Pflichtstunden an der Hochschule bekleidet, während man komponierte, Privatstunden gab, einen Frauenchor regelmäßig leitete, Konzerte hatte - …
Kuypers Verbitterung ist groß – trotzdem macht sie weiter. Nur ein Jahr später wird sie in Amsterdam im Rahmen der Ausstellung Die Frau 1813-1913 ein Ad-hoc-Frauenorchester auf die Beine stellen und ihre Kompositionen dirigieren, darunter die 1912 entstandene Festkantate für Frauenchor, Soli, Deklamation und Orchester. Diesmal sind auch die Blasinstrumente von Frauen besetzt.
Kuypers Werke werden in den großen Städten Deutschlands und Hollands gespielt. Willem Mengelberg führt ihre Orchesterserenade mit dem Konzertgebouw-Orchester auf. Ihre Kompositionen finden immer mehr Beachtung. Bis schließlich der 1. Weltkrieg ausbricht „und die Nationalitätsfrage wichtiger als die des Talentes wurde. Auch ich, die ich in Holland geboren war, wurde von der giftigen Welle nationaler Vorurteile berührt, die mit dem Krieg über die Welt losbrach (…).“
Elisabeth Kuyper sieht sich zunehmend Anfeindungen und Intrigen ausgesetzt. Man sieht nicht gern, dass eine ausländische Frau eine staatliche Anstellung an einer deutschen Musikhochschule bekleidet – und nutzt die nächstbeste Gelegenheit, Kuyper zu entlassen. Im Oktober 1918 muss sie sich einer Operation unterziehen, von der sie sich nur langsam erholt. Ende 1919 stirbt ihre Mutter. Als sie schließlich nach Berlin zurückkehrt, liegt die Kündigung auf ihrem Tisch.
Sie stürzt sich in ihre Arbeit, komponiert eine Symphonie, führt ihre zweite Violinsonate mit der Geigerin Gabriele Wietrowetz auf und arbeitet an einem Mysterienspiel - alle drei Werke gelten heute als verschollen. Aus Anlass der Tagung des Internationen Frauenrates in Den Haag stellt sie erneut ein Frauenorchester zusammen und dirigiert ihre Werke, darunter Arrangements von Volksliedern und ihre Hymne an die Arbeit für Frauenchor, Sopran und Orchester.
Lady Aberdeen, Präsidentin des Frauenrates, lädt sie daraufhin ein, nach London zu kommen. Dort würde es bessere finanzielle Möglichkeiten geben als auf dem Kontinent. Kuyper folgt ihrem Rat und gründet 1923 das London Women`s Symphony Orchestra. Die Kritiker bezeichnen sie als „brillante, aufrichtige und furchtlose Musikerin“. Ihr Lied von der Seele für 7 Solostimmen, Orchester und Tanz wird aufgeführt, ein Komitee zur Unterstützung des Orchesters gegründet. Viel Lob und Anerkennung, doch viel zu wenig Geld! Schon nach wenigen Monaten muss Kuyper aufgeben, ähnlich wie in Deutschland und Holland.
Noch einmal folgt sie dem Rat Lady Aberdeens und versucht ihr Glück in New York. In New York gebe es 400 aktive Frauengruppen, das „Phänomen“ des Frauenorchesters sei dort nichts Neues.
Oktober 1924 gründet Kuyper das American Women’s Symphony Orchestra. Auch in New York werden ihre Werke und ihr Orchester überschwänglich gefeiert. Sie wird sogar von der Frau des amerikanischen Präsidenten empfangen – am notorischen Geldmangel ändert das gar nichts. Enttäuscht und resigniert reist sie in die Schweiz, um sich zu erholen. Die nächsten Jahre wird sie keinen festen Wohnsitz haben, lebt abwechselnd in Berlin und in verschiedenen Schweizer Orten, kämpft für den Druck, die Aufführung und die Verbreitung ihrer Werke.
Mit Ausbruch des 2. Weltkrieges siedelt sie endgültig in die Schweiz über, in die Nähe von Lugano. Die Behörden zeigen sich gnädig wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes. Arbeiten darf sie nicht, erst 1947, siebzigjährig, gesteht man ihr eine Arbeitserlaubnis zu. Über ihr Leben und Wirken in dieser Zeit ist nur wenig bekannt. Sie komponiert überwiegend Vokalwerke. Mit der Schweizer Arbeitserlaubnis darf die 72jährige erfahrene Dirigentin und Komponistin gelegentlich als Assistenzdirigentin für das Orchester des Schweizer Rundfunks in Lugano einspringen. Eine Rolle, die normalerweise jungen Absolventen gebührt, die dem Maestro die Partituren hinterhertragen und heimlich auf dessen Unpässlichkeit hoffen, um ihn bei einer Probe oder einem Konzert vertreten zu können.
Kuyper lebt bis zu ihrem Tod in Armut und in dem vergeblichen Bestreben, ihre Kompositionen zu veröffentlichen.
Meine größte Sorge ist, dass die Partitur des Violinkonzertes noch nicht kopiert ist und dass ich vorher sterben könnte.
Gibt es womöglich ein zweites Violinkonzert von Elisabeth Kuyper? Wir wissen es nicht. Neun ihrer Werke gelten als vermisst, vermutlich sind es mehr, Kompositionen, von deren Existenz nichts bekannt ist.
Am 26. Februar 1953 wird Kuyper halb bewusstlos in ihrem Zimmer in Muzzano gefunden und stirbt noch am selben Tag. Ihr Petroleumofen ist kaputt, was genau geschah, ist nicht bekannt. Nach ihrem Tod erinnert man sich kaum noch an die holländische Komponistin. Nur ein paar wenige wissenschaftliche Artikel. 1991 veröffentlichen zwei holländische Autoren einen umfangreichen Beitrag in dem Buch Zes vrouwelijke componisten (Sechs Komponistinnen). Es ist das erste Mal, dass auf der Basis eingehender Recherchen so ausführlich über die Komponistin geschrieben wird. Sogar ein Werkverzeichnis findet sich am Ende des Beitrages. In dem Abschnitt über ihre Musik erwähnen die Autoren insgesamt 13 Komponisten, an denen sich Kuyper orientiert habe. Die Palette reicht von Schumann über Dvorak bis hin zu Reger. Wäre es möglich, dass Kuyper nicht nur in der Tradition eines Brahms, Bruch oder Mahler steht, sondern einfach nur Kuyper ist?
(Text von 2022)
Verfasserin: Uta Ruscher
Links
IMSLP (2022): Category:Kuyper, Elisabeth. Werke.
Online verfügbar unter https://imslp.org/wiki/Category:Kuyper,_Elisabeth, zuletzt geprüft am 23.01.2023.
Lücker, Arno (2022): 158/250: Elisabeth Kuyper. In: VAN Magazin, 10.08.2022.
Online verfügbar unter https://van-magazin.de/mag/250-komponistinnen-elisabeth-kuyper/, zuletzt geprüft am 23.01.2023.
MUGI (2022): Elisabeth Kuyper.
Online verfügbar unter https://mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000463?XSL.back=K, zuletzt geprüft am 23.01.2023.
Literatur & Quellen
Conrad, Bettina (Hg.) (1999): Führende Frauen Europas. Elga Kerns Standardwerk von 1928/1930. München, Basel. Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 349701480X.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Metzelaar, Helen (Hg.) (1991): Zes vrouwelijke componisten. Zutphen. Centrum Nederlandse Muziek. (Bibliotheek Nederlandse muziek) ISBN 9060117336.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Rieger, Eva (Hg.) (1990): Frau und Musik. Darin: Mein Lebensweg (1929) | Elisabeth Kuyper. Kassel. Furore-Verlag, 1990; Furore-Verl. (Furore-Edition, 844) ISBN 392732700X.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Sonntag, Brunhilde und Matthei, Renate (Hg.) (1987): Annäherung III – an sieben Komponistinnen. Elisabeth Kuyper, Ethel Smyth, Jacqueline Fontyn, Kerstin Thieme, Mia Schmidt, Tu Wen-Hui. Mit Berichten, Interviews und Selbstdarstellungen. Darin: Elisabeth Kuyper. »Denn in der Kunst gibt es nur Ganzes …« | Susanne Winterfeldt. Kassel. Furore-Verl. (Furore-Edition, 821) ISBN 398013265X.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
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