Biographien Dorothy Richardson
geboren am 17. Mai 1873 in Abingdon, Berkshire, UK
gestorben am 17. Juni 1957 in Beckenham, Groß-London, UK
britische Schriftstellerin
150. Geburtstag am 17. Mai 2023
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Dorothy Miller Richardson ist eine der fast Vergessenen der Englischen Literatur. Zeitgenossin von Woolf, Joyce, Mansfield, James und Proust, den Großfiguren der literarischen Moderne, ist es die Darstellungsform der heute kaum Gelesenen, die zum Signum der Moderne wurde: ihre Konzentration auf das Innenleben der Figuren und deren Stream of consciousness, den Bewusstseinsstrom, wie die Zeitgenossin May Sinclair im Anschluss an den Psychologen William James Richardsons literarisches Verfahren nannte.
Dorothy wurde 1873 in Abingdon geboren. Die Mutter, eine kleine zarte Frau, konnte ihrem Mann kaum etwas recht machen. Vor allem, weil sie nur Mädchen gebar. Dorothy, das dritte von vier Kindern, nannte der Vater gelegentlich Charles oder seinen „Sohn“. Sie gingen in eine liberale Schule, spielten Tennis, ruderten, fuhren Fahrrad, natürlich in Röcken. Den Vater interessierten die wissenschaftlichen Entwicklungen der Zeit. Den florierenden Lebensmittelhandel verkaufte er nach dem Tod seines Vaters, um mit der Familie in London als Gentleman zu leben. Das ging nicht lange gut. Er machte 1893 Bankrott, das Haus wurde verkauft, die Armut nur mühsam verdeckt. Die ohnedies verzweifelnde Mutter tötete sich 1895.
Anders als ihre Schwestern konnte Dorothy sich noch nicht zur Ehe entschließen, sie nahm 1891 eine Stelle in einer Schule für höhere Töchter in Hannover an. Ihre Erfahrungen in der „spitzgiebeligen“ Stadt beschreibt sie in Pointed Roofs (1915). Es ist der erste der 13 Romane, die Richardson als Kapitel ihres Lebens verstand. Pilgrimage, ihre kaum verschlüsselte Autobiographie, erzählt die Jahre von 1891 bis 1919, geschrieben wird sie von 1912 bis 1938. Der letzte Band erscheint posthum, in der Gesamtausgabe von 1967.
Schon nach einem halben Jahr kehrt sie wegen der kränkelnden Mutter nach Hause zurück. Wird Assistentin eines befreundeten Zahnarztes, leistet sich Urlaub im Berner Oberland, dem Setting für ihren Roman Oberland. In einer schäbigen Pension in Bloomsbury findet sie ein Zimmer. Sie liebt die Stadt, die sie vor allem abends durchwandert. London bietet ihr Freiheit, kulturelle, soziale, künstlerische, vor allem intellektuelle Vielfalt. Es wird das Treibhaus ihres Lebens.
In einer dieser Pensionen lernt sie einen jungen russischen Juden kennen. Er bewundert sie und ihre sprachliche Gewandtheit. Sie beginnt zu übersetzen, aus dem Deutschen und Französischen. Heiraten will sie ihn nicht. Und auch nicht H.G.Wells, den Mann einer Schulfreundin, von dem sie 1907 ein Kind erwartet. Von der Fehlgeburt erholt sie sich bei einer Quäkerfamilie in Sussex. 1914 erscheint ihr Buch über die Quäker.
Schon seit 1906 arbeitet sie als freie Journalistin. Sie hatte begonnen, Artikel u.a. für die Saturday Review zu schreiben, Filmkritiken für das Magazin Close Up. Sie unterrichtet auch wieder, jetzt in Finsbury Park, das zum Setting für den Roman Backwater (1916) wird. Honeycomb (1917) mit seinem eleganteren Setting erzählt von ihrer Arbeit als Hauslehrerin. Es ist die Zeit um den Tod der Mutter und auch die einer bedrückenden Glaubenskrise. Für mehrere Monate zieht sie sich nach St. Ives in Cornwall zurück, das sie sich finanziell eher leisten kann als London.
1916 freundet sie sich in ihrer Pension mit dem Künstler Alan Odle an. Seine an Hogarth und Beardsley erinnernden Bilder beeindrucken sie. 1917 heiraten sie – beide eher zögerlich. Er ist 15 Jahre jünger, ein lebensfremder Alkoholiker, den diese lebhafte Frau anzieht. Sie arbeiten unermüdlich, aber beider Honorare reichen kaum für das Nötigste, denn auch seine Kunst bringt nicht viel ein. Als ihre Romane, etwa The Tunnel (1919), erfolgreicher werden, kann sie immerhin mit dem Unterrichten aufhören. Sie pendeln zwischen London und Cornwall, das während des Krieges zur zweiten Heimat wird. Einen Glücksfall erlebt sie 1942: Dank der Bemühungen der Freunde erhält sie eine Civil List Pension von jährlich 100 £, damals eine beachtliche Summe. Sie wird freiwillige Helferin in einem Cafe, unterstützt einen Bauern bei der Büroarbeit. Sie kränkelt, hat wenig Lust zum Schreiben. Odle erliegt der Grippewelle von 1948, Sie selbst erkrankt an Gürtelrose und stirbt 1957 in einem Pflegeheim in Beckenham, Groß-London.
Der von Sinclair benutzte Begriff des Stream of consiousness fasst zutreffend die sich durchziehende Thematik von Richardsons Gesamtwerk: die Wahrnehmung der Welt in Gefühlen und Erleben von Miriam Henderson. Vermittelt wird diese Welt durch ästhetische Verfahren, die auch ihr Zeitgenosse Marcel Proust verwendet, innerer Monolog und erlebte Rede. Sie sucht, sagte Virginia Woolf, „the psychological sentence of the female gender“. Der Vater hatte ihr zwar das starke Interesse an den sozialen Bewegungen ihrer Zeit vermittelt, und auch wenn sie die Suffragetten unterstützt, bleibt doch ihr eigentliches Thema die innere Befindlichkeit, die Welt wahrgenommen aus weiblicher Perspektive. Die männliche sei zu partiell, sagt sie, zu wenig emotional. Ihr fehle „the point of view of life as a whole“. Dieses Ganzheitliche vermisst sie auch bei den Suffragetten, mit denen sie wohl sympathisiert, aber eher aus der Ferne.
Wer sich nicht an die Romane wagen will, wird die Erzählungen in Journey to Paradise gerne lesen. Veröffentlicht zwischen 1919 und 1963, sind sie ein großartiges Beispiel für Richardsons Erzählkunst.
(Text von 2022)
Verfasserin: Liselotte Glage
Literatur & Quellen
Fromm, Gloria G. 1994. Dorothy Richardson. A Biography. Athens GA. Georgia UP.
Hanscombe, Gillian & Virginia L. Smyers. Hg. 1987. Writing For Their Lives: The Modernist Women 1910-1940. London. The Women's Press.
Richardson, Dorothy Miller. 1967. Pilgrimage. 4 Bde. London. Dent.
Richardson, Dorothy Miller. 1989. Journey to Paradise. Short Stories and Autobiographical Sketches. London. Virago.
Rosenberg, John. 1973. Dorothy Richardson: The Genius They Forgot. A Critical Biography. London. Duckworth.
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