Biographien Dorothea von Montau
(eigentlich Dorothea Swartze)
geboren am 25. Januar 1347 in Groß Montau (Matowy Wielkie), Westpreußen
gestorben am 25. Juni 1394 in Marienwerder (Kwidzyn), Westpreußen
deutsche Mystikerin, Rekluse, Schutzheilige Preußens und des Deutschen Ordens, in der katholischen Kirche als Heilige verehrt, bedeutsam für die Entwicklung der Sakralkunst
630. Todestag am 25. Juni 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Dorothea von Montau ist eine weniger bekannte, nichtsdestoweniger wichtige und wirkmächtige Vertreterin der spätmittelalterlichen Frauenmystik. Die geschlechtergeschichtlich äußerst bedeutende Bewegung der Frauenmystik gelangte während des 13. und 14. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas zu ihrer vollen Entfaltung und höchsten Dichte. Sie war Teil einer umfassenden mystischen Bewegung, die als Folge des sozial- und geistesgeschichtlichen sowie religiösen Umbruchs die europäische Gesellschaft seit dem 12. Jahrhundert geprägt hatte. Das Erstarken des Bürgertums, der Aufschwung von Handel und Handwerk in den neuen und immer größer werdenden Städten bewirkten einerseits Verunsicherung, andererseits neue Freiheiten („Stadtluft macht frei“).
Hatte sich der mittelalterliche Mensch als Teil und Spiegelbild göttlicher Ordnung erlebt, fühlte er jetzt in aller Deutlichkeit die Disharmonie zwischen Welt und Gott. Nicht nur Spannungen im politisch-gesellschaftlichen, sondern auch im kirchlich-theologischen Bereich prägten besonders die krisenhafte Wende von 13. zum 14. Jahrhundert. Das Exil der Päpste (1309 – 1377), der Sitz von Gegenpäpsten in Avignon (1378 – 1403) erschütterten das Vertrauen in die Kirche und ihre Autoritäten. War die mittelalterliche Welt von lähmender Angst geprägt gewesen - Gedanken an das Endgericht, an Tod und Teufel, an ein ständiges Eingreifen des Teufels und baldiges Erscheinen des Antichrists waren überall verbreitet – kam es nun zu einer Gegenbewegung. Nach grandioser Macht- und Prachtentfaltung der Kirche erfolgte ein Umschwung in die Innerlichkeit und Individualität, in mystische Frömmigkeitsformen jenseits kirchlicher Traditionen.
Das mystische Gedankengut hatte sich zum Teil aus der Spiritualität des Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153) entwickelt, die von Affektivität und Sinnlichkeit geprägt war. Der Affekt der Liebe vermittelt nach ihm eine tiefere und intensivere Gotteserkenntnis als das theoretische Erkennen. Die Wahrheiten der christlichen Offenbarung sollten nicht nur verstandesmäßig, sondern mit allen Sinnen des Körpers erfahren werden. Psychosomatische Phänomene wie Visionen, Auditionen, Ekstasen und Hypertensionen bestimmten die neuen Formen der Frömmigkeit, immer in enger Verbindung mit strengster Askese und Armut – oder reichem Beschenken der Armen, wie es in der Familie Dorotheas ausgeübt wurde. Die mit Bernhard von Clairvaux aufgekommene Gefühlsmystik, adaptiert von den Mystikern Heinrich Seuse (1295 – 1366) und Johannes Tauler (1300 – 1361), setzte keine Kenntnis der lateinischen Sprache oder der Theologie voraus, was in besonderer Weise den Frauen zugute kam – war ihnen doch bisher jede Bildung verwehrt. Sie fühlten sich von der mystischen Bewegung in besonderer Weise angesprochen und machten sich auf die Suche nach einem neuen Selbst- und Frömmigkeitsverständnis. Die Frauenmystik wurde – wenn auch im christlichen Denken verhaftet – die erste Frauenbewegung unserer Zeitrechnung.
Gegen Ende des 14. Jahrhunderts wurde das Gebiet jenseits der Weichsel, das Deutschordensland, von einer späten Quelle der Mystik erreicht, inspiriert vom Wirken und den Schriften der heiligen Birgitta von Vadstena (ca. 1302 – 1373) mit dem Höhepunkt des Wirkens Dorothea von Montaus.
Dorothea von Montaus Leben spielte sich an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Neuzeit ab: einerseits war Dorothea von Montau geprägt und verfolgt von den sadistischen Zügen mittelalterlicher Theologie, andererseits kämpfte sie beharrlich und unerbittlich um ihren selbstgewählten, äußerst individuellen Weg. Sie wurde nicht nur zu einer einzigartigen Mystikerin von hoher visionären Kraft, sondern auch zu einer Vorläuferin für das Recht der Frau auf Selbstfindung und Emanzipation.
Dorothea von Montaus Leben ist die Geschichte einer lebenslangen Suche nach innerem Frieden - nach der „Geborgenheit in Gott“ -, die sie mit unerbittlicher und schwer erträglicher Härte betrieb – sie fand die Geborgenheit erst in den letzten Jahren ihres Lebens. Ihr der neuen Zeit entsprechender „moderner“, d.h. individueller Lebens- und Lernprozess ist vergleichbar mit den heutigen Entdeckungsreisen zum eigenen Ich. Damals wie heute ist dieser Weg begleitet von den „Einflüsterungen des Teufels“, d.h. von den verdrängten, auch heute oft „verteufelten“ Persönlichkeitsanteilen. Seelische Prozesse konnten ja zur damaligen Zeit nur in der christlichen Terminologie und Vorstellungswelt vorgestellt und formuliert werden.
Wie alle Heiligenbiografien ist auch ihre Lebensbeschreibung nicht von ihr selbst verfasst. Sie selbst konnte vermutlich lesen, keinesfalls aber schreiben. Ihr Beichtvater Johannes von Marienwerder, früherer Prager Theologieprofessor und bedeutendster Theologe des mittelalterlichen Preußen, schrieb ihre Vita bereits 1404 in lateinischer Sprache als Vita venerabilis Dominae Dorotheae nieder. Ins Deutsche übersetzt erschien das Werk erstmals 1492 unter dem Titel „Das Leben der zeligen Frawen Dorothee Clewsenerynne in der Thumkirchen czu Marienwerder des Landes czu Prewszen“. Bei der Lektüre ist sein Interesse zu berücksichtigen: seine Schrift sollte den Heiligsprechungsprozess Dorotheas einleiten, also stattete er Dorothea mit allem aus, was von einer Heiligen gemäß der Tradition erwartet wurde. 400 Zeugen bestätigten im Kanonisationsprozess, dass auf Dorotheas Fürbitte hin ihre Gebete erhört worden waren. Aufgrund von Kriegswirren wurde der Prozess allerdings 1404 unterbrochen und erst im 20. Jahrhundert erneut aufgenommen. 1976 wurde Dorothea von Montau von Papst Paul VI. heiliggesprochen. Sie gehört zu den wenigen kanonisierten Frauen, die nicht als Jungfrau oder Nonne, sondern als Witwe und Mutter zur Heiligkeit gelangten.
Dorothea von Montau wurde als siebtes von neun Kindern der Eheleute Agatha und Wilhelm Swartze geboren. Agatha stammte aus Montau, der Vater war als junger Mann vermutlich aus Holland eingewandert. Die Vita schildert ihn als gottesfürchtigen Mann ehrbaren Lebenswandels, der seiner Familie zu Ansehen und erheblichem Wohlstand verhalf. Gesichert ist, dass Dorothea von Anfang an nicht nur den Anweisungen der überaus frommen Mutter gehorchte, sondern weit darüber hinaus fromme Übungen verrichtete. Venien (Niederwerfungen auf den Boden als Demutsgesten), Schlafentzug, Verharren in der Kreuzeshaltung Jesu mit anschließendem Weinen, Beten und Singen gehörten zu ihren ersten Praktiken.
In ihrem siebten Lebensjahr übergoss eine Magd sie versehentlich mit kochendem Wasser, die Verletzungen waren so entsetzlich, dass ihr Tod befürchtet wurde. Die Mutter pflegte sie hingebungsvoll, der physische Heilungsprozess dauerte monatelang, das psychische Trauma hat Dorothea nie überwunden. Von diesem Zeitpunkt an begannen die Qualen, die sie sich selbst zufügte. Üblich und gesellschaftlich verbreitet war zur Zeit Dorotheas zwar die ohnehin extreme Bußpraxis der Selbstgeißelung, Dorotheas Leidenspraxis aber war maßlos. „Sie schlug oft ihren Leib mit Ruten, Peitschen, Disteln, Dornzweigen…, verbrannte sich oft mit siedendem Wasser, mitunter auch mit glühenden Eisen… Ein andermal im zehnten Jahr ihres Lebens verbrannte sie sich beide Füße mit siedendem Wasser so über die Maßen, dass sie sich in Mist setzen und auf die verbrannte Stelle Kot legen musste, damit der Brand herauszöge“. Auffällig ist, dass sie die traumatische Erfahrung der Verbrühung fast lebenslang und gewissermaßen zwanghaft wiederholte – so als ob sie dort ihre Identität suchte. Bezeichnend für das damalige Verständnis von Gottgefälligkeit ist ein Satz aus Marienwerders Niederschrift: er datiert Dorotheas Selbstzerfleischung als Beginn ihrer „Vollkommenheit“. Im Sinne dieser Mentalität lag für Dorothea der Gedankengang nahe: da Gottes strafende Hand sie so entsetzlich getroffen hatte, musste auch ihre Sündenlast von entsetzlicher Größe sein. Von nun an wollte Dorothea zweimal täglich beichten, um diesen Druck loszuwerden – was ihr erst kurz vor ihrem Tod gelang.
„Sie pflegte… in ihre Wunden Nesseln… schmerzende Kräuter oder andere harte Dinge zu stecken, damit sie erneuert und offengehalten und ihr Leiden und ihr Lohn von Gott gemehrt würden“. Christus hatte vorgelebt, dass der Weg zum Heil leidvoll und entsagungsreich ist – so klang wohl die Begründung für den selbstinduzierten Leidensweg. Die brutalen Bußpraktiken der Menschen waren der hilflose Versuch, den befürchteten Höllenstrafen zuvorzukommen und sie damit auf magische Weise zu bannen. Es ist unbestreitbar, dass der von der Kirche befürwortete und verlangte Masochismus zu den Verbrechen an der Menschheit gehört.
Ihre „Arbeit“, wie Dorothea von Montau ihr Büßen und Beten nannte, ging also vordergründig nicht aus krankhafter Skrupulosität oder dem Kreisen um das eigene Ich hervor: sie verstand ihre selbstquälerische Praxis als Dienst an Kirche und Welt und als Sühne für alle Mängel der Christenheit.
Als im Jahr 1359 der Vater starb – ein bodenständiger in seiner Frömmigkeit gemäßigter Mann - verlor Dorothea mit ihm ein Korrektiv zur Mutter, die zu einem Übermaß an christlicher Pflichterfüllung neigte.
1363 heiratete Dorothea sechzehnjährig den älteren, begüterten Adalbert Swertfeger (Waffenschmied) aus Danzig, einen „ehrbaren, verständigen, nach seinem Stande genügend reichen Handwerksmanne“. Dorothea von Montau hat nie erwogen, ins Kloster zu gehen, was manchen HistorikerInnen die „logische“ Folge ihrer bisherigen Lebensführung erscheint. Ebenso psycho-logisch aber ist es, dass Dorothea als an die Mutter gebundene Tochter deren Lebensstil folgte. Auch sie wählte einen Ehemann, der ihr Wohlstand und gleichzeitig die Möglichkeit bot, die „Werke der Barmherzigkeit“ fortzusetzen. Auch sie konnte aufgrund ihres Wohlstandes wie ihre Mutter das großzügige Verteilen von Almosen an die Armen fortführen. Sie hatte „so große Liebe zu den Armen, dass sie ihnen ihre Füße wusch und sie bettete…Mit ihnen zu sein und zu reden war ihr eine besondere Lust und Freude“, schreibt ihr Biograf.
1364, kurz nach der Hochzeit, erfolgte die erste in ihrer Biografie nachweisbare Vision. In ihren Berichten über diese mystische Erfahrung heißt es: „…von großer Wollust wurden Leib und Seele hinfließend, und die Seele floss von großer hitziger Liebe und Wollust gerade so wie ein Erz, das geschmolzen war, und wurde eins im Geiste mit unserem lieben Herrn.“ Eine „heißbrennende Liebe“ zu Gott setzt ein, die sie als lebenslangen Hunger nach der Eucharistie verspürte.
Wie andere heiliggesprochenen Ehefrauen bekämpfte auch Dorothea ihre erotisch-sexuellen Regungen, zu ihrer Zeit als „Anfechtungen“ diffamiert. Folgerichtig führte das Eheleben zu inneren und äußeren Zerreißproben und zu noch heftigeren Kasteiungen ihres Körpers. Gleichwohl muss sie trotzdem sinnliche Lust gekannt und genossen haben, denn sie wird nach 15 Jahren Ehe zitiert: „Sie erkannte jetzt, dass die göttliche Süßigkeit alle fleischliche Lust übertrifft.“ Dorothea litt so sehr unter der ambivalenten Einstellung zu ihrem eigenen Körper, dass sie schwer erkrankte. Sie wurde mit den Sterbesakramenten versehen und gesundete erst, als Adalbert ihr den täglichen Kirchgang erlaubte.
1366 wurde Dorotheas erstes Kind geboren, bis 1380 brachte sie neun Kinder zur Welt. Den Quellen ist zu entnehmen, dass Dorothea eine gute und fürsorgliche Mutter war. Tragischerweise aber verlor sie durch die großen Epidemien der Zeit, vermutlich durch die Pest von 1375 oder 1383 alle Kinder bis auf die jüngste Tochter Gertrud, die 1391 in das Kulmer Benediktinerinnenkloster eintrat.
Von einschneidender Bedeutung ist das Jahr 1374 für Dorothea von Montau, als nach dem Tod der heiligen Birgitta von Vadstena (1302 – 1373) deren Leichnam von Rom nach Schweden überführt wurde und der Leichenzug sich einige Tage in Danzig aufhielt. Es besteht kein Zweifel daran, dass auch Dorothea von Montau dieses Ereignis miterlebte. Birgittas Schrift „Revelationes“ lag schon bald im Deutschordensgebiet vor, aus ihr wurde gepredigt, eine Verehrung Birgittas setzte bald ein. 1390 lebten bereits Birgitten-Nonnen in der Stadt, 1394 wurde ein Birgittenkonvent gegründet. Zahlreiche Stellen in Dorothea von Montaus Visionen weisen verwandte Züge und Vorstellungen zu Birgittas Offenbarungen auf.
Birgittas innige Verehrung Marias als Mutter Gottes sollte für das kommende Jahrhundert von großer Bedeutung werden; ihre Schriften zeugen von einer vertieften Brautmystik, von der Dorothea von Montau sich besonders angesprochen fühlte. War doch auch Birgitta Ehefrau gewesen und hatte eine Reihe von Kindern geboren. Ausdrücklich nach deren Vorbild sah auch Dorothea von Montau einen Auftrag darin, durch „äußere und innere Arbeit“, d.h. durch Bußwerke und inneres Gebet für die Nöte der Zeit „Gott in sich zu gebären“, wie sie es nannte. Das erlebte sie mit einer Lebendigkeit und Realität, als ob sie kurz vor der Geburt eines Kindes stünde, das sich in ihrem Schoß bewegte. Für beide Frauen symbolisierte die Gottesmutter den Ort der Geborgenheit und des Schutzes, die Quelle des Lebens schlechthin.
Das Jahr 1378 gilt als Anfang von Ekstasen, von „Verzückungen“, die Dorothea von Montau erlebte und die sie als Anlass für noch härtere Askese nahm: Schlaf auf dem Erdboden, auf Brettern, ein Stein unter dem Kopf, häufiges Übergießen mit Kaltwasser etc. Wie berichtet wird, überkam sie in Momenten solcher Visionen und Selbstvergessenheiten die „süße Gnade Gottes“, worüber sie ihre „irdischen“ Pflichten vergaß: „Also geschah es auch, wenn sie ihr Ehemann Fleisch oder Fische kaufen hieß, dann kaufte sie zuweilen Eier oder etwas anderes …Wenn sie zum Markt gehen sollte, so ging sie in die Kirche oder andere Wege. Von der Wirkung der Gnade Gottes wurde sie mitunter so sehr in sich selbst zurückgezogen, dass sie die einfachsten Dinge nicht kannte…“ Es ist überliefert, dass sie einmal im Zustand der „Verzückung“ einen ungeschuppten und nicht ausgenommenen Fisch auf den Tisch stellte. Aus Zorn über solche Absencen schlug der Ehemann sie immer wieder - dann wiederum übernahm er bereitwillig die Rolle des Hausmanns: „… er gönnte ihr wohl, dass sie vor der Essenszeit fleißig Gott diente, wie sie wollte und konnte, und damit sie die Pflege der Kinder nicht daran hinderte, so blieb er selbst während der Zeit zuhause und versah fleißig ihre Stelle.“
1380 legte das Ehepaar das Gelöbnis der ehelichen Enthaltsamkeit ab, woraufhin Dorothea an allen Sonn- und Feiertagen zur Kommunion zugelassen wurde, was ansonsten nur zu den großen Feiertagen möglich war.
Aus der historischen Volkskunde ist bekannt, welch große Rolle die Wallfahrten im Mittelalter spielten. Tatsächlich brach das Ehepaar 1384 ohne die kleine Gertrud, die bei „geistlichen Freunden“ in Aufbewahrung gegeben wurde, zu einer Pilgerfahrt nach Aachen und Einsiedeln in der Schweiz auf. Vor allem in Einsiedeln, wo sie viel Freude und Anregung mit anderen „Gottesfreunden“ hatte, wäre Dorothea von Montau gern geblieben, wenn sie nicht um ihres Mannes willen wieder nach Danzig hätte zurückkehren müssen. Beide verpflichten sich zum höheren Dienst an Gott.
Johannes Marienwerder nimmt in seiner Vita von Dorothea von Montau für das Jahr 1385 eine Zäsur vor, womit er auf eine Zäsur in Dorothea von Montaus Leben hindeutet. Das zweite Buch eröffnet er mit der erstaunlichen Überschrift „Wie ihr das Herz herausgenommen und ein anderes dafür eingesetzt wurde“. Im Alter von 39 Jahren, 9 Jahre vor ihrem Tod, hat sich offensichtlich eine seelische Erschütterung ereignet – in heutiger Sprache ausgedrückt. Ihre innere Stimme, die sie als Stimme Gottes erlebt hat, teilt ihr mit: „Vorher hattest du dich im Rücken und andere vor dir, auf die du mehr als auf dich gesehen hast. Nun sollst du dich vor dir haben, sollst dich selbst anschauen, wie du gestaltet bist.“ Vielleicht geht es um den Moment radikaler Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, um die Erkenntnis eines trügerischen Selbstbildes. Ein solches Erlebnis kann als mystisch, als „unio mystica“, als spirituelles Glück bezeichnet werden, weil es für einen Moment das Gefühl völligen Eins-Seins mit sich und der Welt bedeutet. Dorothea „bekannte sich vor Maria“, was so viel heißt wie: sie bekannte sich zu sich selbst, zu ihren Unvollkommenheiten und erlebte die Entspannung, nicht mehr einem Bild von sich selbst nachjagen zu müssen. „Da erkannte und durchschaute sie sich zum ersten Male“. Sie hatte „so große Lust und Freude, dass sie es niemand ganz aussprechen konnte“ und: „Du sollst dich nicht so viel abmühen mit Laufen und im Gebet so viel rufen, sondern höre still und ruhig auf meine (das heißt auf deine innere) Stimme.“ Die Stimme „lehrte sie auch alle diejenigen Dinge beichten (also anerkennen), über welche sie bekümmert war oder welche sie zu tun hatte, so zum Beispiel, wenn sie eine Schüssel nicht hatte waschen mögen.“ Ihr leuchtet auf, dass Gotteserkenntnis – die Erkenntnis seiner selbst – nur durch den Vollzug aller Lebensaspekte möglich ist, nicht durch deren Vermeidung, sprich Ver“teufelung“. Diese Schau hat mindestens für einen seligen Moment „ihr Herz vertauscht“ und „überfließende Liebe“ ins neue Herz eingesenkt. In einer Vision erlebt Dorothea daraufhin die Gottesmutter, wie sie ihr das Jesuskind reicht – vielleicht ein Bild dafür, dass sie ihr eigenes inneres Kind, ihre eigenen Bedürfnisse und Bedrängnisse endlich annimmt.
1385 verkaufen Dorothea und Adalbert ihr Haus, eine Rückkehr nach Danzig ist nicht geplant, und brechen mit ihrer kleinen Tochter Gertrud zum zweiten Mal nach Aachen und Einsiedeln auf. In der Mark Brandenburg fallen sie unter die Räuber, werden ihrer gesamten Habe beraubt, Adalbert wird verwundet. In dieser Krise zeigt sich wiederum die lebenspraktische Seite Dorotheas: anstatt zu beten und zu weinen fährt sie den Verbrechern kurzerhand in die nächste Stadt hinterher und schafft es, den Dieben ihren gesamten Besitz wieder abzunehmen. Und sie zeigt, dass sie Hand anlegen kann: „Als ihr Mann geheilt und gesund war, und sie sich wieder auf den Weg machten, da wurde ein Pferd krank, der Mann gab dem Knecht Urlaub und machte Dorothea zum Wagenlenker. Sie versah ihr Amt fleißig und demütig. Sie ging im kurzen Rock nebenher, lenkte, reinigte und schmierte den Wagen, tränkte die Pferde, gab ihnen Futter, spannte sie an den Wagen und kutschierte auf dem Wagen ihre junge Tochter und den alten Mann über Land… Die Leute kamen scharenweise herbeigelaufen …und bemerkten, dass ... der Mann alt und grau war und einen großen Bart hatte… und einige sprachen spöttisch…Liebe Schwester, wo willst du den Joseph hinführen? Willst du ihn zum Jungbrunnen führen?“ Dorothea nimmt den Spott „fröhlich“ an – sie hat an Ich-Stärke gewonnen.
Das Ehepaar lebt anderthalb Jahre in Einsiedeln, die Menschen dort haben also Gelegenheit, Dorothea über längere Zeit kennenzulernen und bemerken ihre Gelassenheit und ihre Reife. Zum ersten Mal in ihrer Biografie erscheint sie als Vorbild und Lehrerin: „Ihre ununterbrochene Übung der Tugend wurde von einigen Menschen bemerkt, sie hatten sie darum lieb, ehrten sie und wünschten, dass sie immer bei ihnen bleiben möge.“
Als Adalbert 1387 wegen der Kriegswirren wieder zurück nach Danzig reisen will, untersagt der Pfarrer von Einsiedeln Dorothea, in Einsiedeln zurückzubleiben und Mann und Kind zu verlassen, um als Bettlerin zu leben. Dass dies nicht gänzlich gegen ihren Willen geschah, zeigt ein kleiner Satz in ihrer Biografie: „Sie hatte ihn lieb“.
Von häufigen Ekstasen und Visionen und Bußübungen berichtet der Biograf im folgenden Jahr, in dem Dorotheas Mann schwer erkrankt. Und auch seine Aussage wirft ein Licht auf die Ehe der beiden: „Da war von niemandem eine Handreichung oder ein Dienst angenehm denn allein von seiner Hausfrau Dorothea.“
Fast ihr ganzes Leben verbrachte Dorothea in einem Widerspruch. Nichts interessierte sie einerseits so sehr wie das Drängen nach mystischer Vereinigung mit Gott, aber sie war von der Vorstellung beseelt, dass dies nur durch Abschottung von allem Weltlichen zu erreichen sei. Gleichzeitig verspürte sie den anderen starken Wunsch in sich: einen Mann zu lieben, Kinder zu haben, in einer Familie zu leben, ein wohlhabendes Haus zu führen. Diesen Konflikt hat sie bis zum Tod ihres Mannes im Jahr 1390 nicht lösen können.
1389 beendet Dorothea von Montau ihre härtesten asketischen Übungen, ebenso ist keine Rede mehr von „schweren Versuchungen“. Offensichtlich hat sie ihre geistlichen Ansprüche auf ein menschengerechtes Maß reduziert und verlangt nun mehr denn je nach einem „Seelenführer“. Ihr bisheriger Beichtvater, Pfarrer Nikolaus Hohenstein, verweist sie an Dr. Johannes Marienwerder am Dom von Pomesanien. Für ihn ist Dorothea eine begnadete Mystikerin, als erster entwickelt er ein Verständnis für Dorothea und ihre Konflikte und ermutigt sie zu einer Pilgerfahrt nach Rom im Heiligen Jahr 1390.
Mit dem Einverständnis ihres Mannes bricht sie im Zustand „heiß brennender Liebe“ zur Reise nach Rom auf, zur Reise zu sich selbst auf. Sie ist voller Kraft, hält die frommen Übungen in Grenzen und geht sogar „meistens in Schuhen“. In Rom wandert sie allerdings barfuß zu allen sieben Hauptkirchen der Stadt, bis sie von einer schweren Lähmung befallen wird. Sieben Wochen lang kann sie „weder gehen noch stehen, auch selten sich von einer Seite auf die andere wenden“. Später, ein Jahr vor ihrem Tod, wird ihr der „Sinn“ der Krankheit bewusst: Ihre innere Stimme, die sie als Stimme des Herrn erlebt, sagt ihr, dass all ihr Streben auf einem Irrtum beruht. Die zwanghafte Jagd nach der Seligkeit ist vergebens. Nur wer sich in Geduld dem Gegenwärtigen öffnet, kann das Wesentliche bemerken. Die Krankheit hatte sie zum Innehalten gezwungen: „Denn wärst du hier (zuhause in Danzig) so schwach geworden wie in Rom, du hättest Hilfe von den deinen gehabt und die Krankheit für nichts geachtet.“
Während ihres Aufenthaltes in Rom stirbt ihr Ehemann, sie reist zurück nach Danzig und legt im darauffolgenden Jahr, an Leib und Seele schwer leidend, die 100 km nach Marienwerder zu Fuß zurück, um Beichte bei Johannes Marienwerder abzulegen. Johannes Marienwerder agiert wie ein heutiger guter Therapeut: er konfrontiert Dorothea mit sich selbst, so dass ihr Verstand „hell erleuchtet“ und „Vieles ihr bewusst wird“. Sie ist so stark mit sich selbst (und jetzt nicht mehr mit asketischen Übungen) beschäftigt, dass sie manchmal „den Weg aus meiner Herberge in die Kirche nicht finden konnte“.
1391 wird ihr die Verbrennung als Hexe angedroht, da sie angeblich im Glauben irrt. Ihr werden die in ihren Beichtgesprächen berichteten Visionen vorgehalten. Die drohende Verbrennung kann ihr Beichtvater gerade noch verhindern.
Dorothea von Montau war nach dem Tod ihres Mannes nach Marienwerder gezogen und beantragt nun ein Leben als Klausnerin. Ihr Anliegen wird anderthalb Jahre lang geprüft, dann wird sie 1393 in eine für sie an den Marienwerder Dom angebaute Zelle geführt und eingeschlossen.
Mehrere Fenster ermöglichen den Blick zu Außenwelt: ein Fenster öffnet sich zum Inneren der Kirche, ein zweites zum Himmel, durch ein drittes wird ihr das Essen gereicht und bietet die Möglichkeit zu Kontakten und Gesprächen mit BesucherInnen. Mittlerweile ist sie eine weithin verehrte heiligmäßige Frau geworden, deren Rat gefragt ist. Nun ist sie die „Beichtmutter“, die Beraterin geworden, deren Vorschläge und Voraussagen sich als zutreffend erwiesen. Sie weiß jetzt: „Die Seele des Menschen ist mit großem Fleiße zu erziehen.“ Mit neuer Bescheidenheit hört sie die Stimme des Herrn (ihre innere Stimme) sagen: „Ich könnte dich wohl ohne leibliche Speise erhalten, wenn ich wollte; aber ich will nicht. Denn täte ich dies, so hielten dich die Leute für heilig“ und „Nun will ich dir noch den Wahn der Heiligkeit nehmen.“
Für Dorothea von Montau wird die Klausur zu ihrem eigenen Reich, zum Raum ihrer Selbstständigkeit, ihres Selbstbewusstseins und zu einem machtvollen Standing. Es scheint, als ob sie endlich erreicht hat, wonach sie ihr Leben lang strebte: die „coincidentia oppositorum“, die Vereinigung ihrer bisher als gegensätzlich erlebten Strebungen: zum einen den Rückzug in die Stille, zum anderen die Möglichkeit zu ausgewählten und einflussreichen Kontakten. Sie mischt sich nun wie alle Mystikerinnen des Mittelalters in die Politik ein. Unter Berufung auf ihre Visionen hält sie Strafpredigten auf Päpste und Hochmeister des Deutschen Ordens. Sie betet und wirbt für die Überwindung des Kirchenschismas und für ihr Vaterland, für die Versöhnung von Deutschen, Polen und Litauern im Deutschordensgebiet. Täglich empfängt sie die Beichte und die Eucharistie. In ihren Visionen, d.h. vor ihrem inneren Auge, erblickt sie Gastmähler der Seele mit Jesus und den Heiligen. Ihre letzten Tage sind erfüllt von der Schau des Paradieses und der Sehnsucht nach dem ewigen Leben.
Am 25. Juni 1394 wird Dorothea von Montau nach 14monatigem Aufenthalt in der Klause im Alter von 47 Jahren von Johannes Marienwerder in der Klause tot aufgefunden. Ihre Gebeine werden in einem ausgemauerten Grab in der Krypta des Domes beigesetzt.
Für „außergewöhnliche Frauen jener Zeit war die aktive Frömmigkeit nahezu die einzige Möglichkeit…, um erlangen zu können, was heute Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung genannt werden würde. Nur auf diesem Feld geistlicher Aktivität tolerierte die wie selbstverständlich von Männern geprägte und beherrschte Gesellschaft die Eigenständigkeit einer Frau“ (Rentschler 154). Dorothea von Montaus Handlungsfelder waren Kirche und Familie – Bildung und möglichen Aufstieg in den damals mächtigen Klöstern nahm sie nicht in Anspruch. Sie lebte mit unerschütterlicher Konsequenz ihren individuellen geistlichen Weg. Ihre ganze psychische und physische Kraft, ihre Radikalität und Beharrlichkeit setzte sie auf die Karte der Buße und des ewigen Heils. In anderen Lebensbereichen war sie lange Zeit ohne jedes Selbstbewusstsein: „Ich bin alle Tage meines Lebens nie so kühn gewesen, dass ich mich hätte erdreisten wollen, eine Viertelmeile des Weges alleine zu gehen.“
(Alle Zitate aus der Vita Dorotheas von Montau nach Rentschler)
Zur kunstgeschichtlichen Bedeutung Dorotheas von Montau
Parallel zur spirituellen Hochblüte der Frauenmystik von 1200 bis 1400 findet zeitlich und räumlich in der bildenden Kunst eine Entwicklung statt, die einen bildhaften Zugang zum Verstehen jener spezifischen weiblichen Frömmigkeitsformen eröffnet: das über ganz Europa verbreitete Andachtsbild der Schreinmadonna.
Eine Schreinmadonna - französisch vierge ouvrante - ist eine Statue der Muttergottes, die sich vertikal wie ein Triptychon öffnen lässt.
Das Besondere der Schreinmadonnen ist ihre Figurenkonzeption: in geschlossenem Zustand stellt die sie jungfräuliche Gottesmutter mit dem Kind auf dem Arm dar, geöffnet enthüllt sie Gott-Vater, Sohn und den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube - den sogenannten Gnadenstuhl. Bei vielen Schreinmadonnen, wie bei der abgebildeten aus Palau de Vidre, ist die Jesusfigur nicht überliefert; sie wurde beim geöffneten Zustand der Madonna auf die Arme Gottvaters gelegt und musste andernorts aufbewahrt werden, um die Figur schließen zu können. Der Anfang der Entwicklung des Schreinmadonnentypus fand vermutlich in Frankreich um 1200 statt, von dort stammt jedenfalls die älteste erhaltene Skulptur. Von hier aus verlief strahlenartig die weitere Verbreitung der Schreinmadonnen in ganz Europa. Von der Massenproduktion der Schreinmadonnen sind bis heute nur noch ca. 40 Exemplare entdeckt worden. Sie stammen aus Portugal, Spanien, Deutschland, der Schweiz, Österreich, Dänemark, Schweden und dem heutigen Polen - zu Zeiten Dorotheas von Montau das Deutschordensland.
Für die klassische deutsche Mystik ist eine ausgeprägte Verrehrung der Schreinmadonnen überliefert. Zentral für das Verständnis der Schreinmadonnen ist das Aufblühen der Mariologie, die Lehre von der Mittlerschaft der Jungfrau Maria zwischen Christus und der Kirche. Maria erscheint als menschliche und daher nicht zu fürchtende Mittlerin zur furchterregenden Gottheit Christi. In den Schreinmadonnen wird nun Maria zum Schrein des Erlösungsmysteriums. In ihrem Schoß vollzieht sich die Verbindung Gottes mit der Menschheit. In der Gottes-Mutter wohnt die Dreifaltigkeit (inhabitatio trinitatis), so wie es François Villon (1431 – nach 1463) in seinem Gebet preist:
Premier je donne ma pauvre ame
A la benoiste Trinité
Et la commande a Notre-Dame
Chambre de la divinité.
(Vor allem gebe ich meine arme Seele der gnädigen Dreifaltigkeit und ich weihe sie der Muttergottes, dem Raum der Göttlichkeit).
Marias Leib wird als geweihter Tempel Gottes und der ganzen Dreifaltigkeit besungen. Ende des 13. Jahrhunderts beschreibt Seifried Helbling das Verhältnis Mariens zur Dreifaltigkeit:
Tecum, mit dir ist recht umkleidet
Gottes Dreifaltigkeit
Die beschloß,
dass sie in deiner Zierde Schrein
selber wohnen wollte,
wie sie getan hat.
Wo umschloss je eine Magd so großen Schatz?
Dir Gefäß des Heils mit Heiligkeit erfüllt
Kann sich nichts vergleichen.
Um das Todesjahr Dorothea von Montaus, im Jahr 1393/94 arbeitet ein Danziger Schnitzer eine Schreinmadonna, in deren rechtem Flügel im Innern der Madonna Dorothea von Montau als Schutzheilige Preußens dargestellt ist - erkennbar am weiß dargestellten Heiligenschein. Das Besondere der Schreinmadonna ist ihre Figurenkonzeption: In geschlossenem Zustand zeigt sie die thronende Madonna mit dem Jesuskind. Werden die Seitenteile geöffnet, zeigt sich eine Schutzmantelmadonna, deren Mittelteil der Gnadenstuhl als Symbol der Dreieinigkeit bildet; eingehüllt in die Innenseite ihres Mantels erbitten Schutzflehende den Beistand der Gottesmutter. Diese Darstellungsform der Heiligen Dreifaltigkeit – im Zentrum die Jungfrau Maria – gehörte zur Bildkultur des Deutschen Ordens, wie sie ohne Leben und Wirken der Dorothea von Montau nicht vorstellbar ist. Ob Dorothea selbst noch Anregungen für die Fertigung der Schreinmadonna gab, sei dahingestellt. Es ist denkbar, dass sie auf ihren Pilgerfahrten von Danzig über Aachen nach Einsiedeln den Bildtypus der Schreinmadonnen – insbesondere am Oberrhein – kennengelernt hat, die Bildidee aufgriff und davon Johannes Marienwerder berichtete. Als Tatsache bleibt bestehen, dass die schöpferische Umgestaltung des Bildtypus durch das Miteinbringen des Schutzmantelbildes im Deutschordensland erfolgt ist und vor allem auf Dorothea von Montau zurückzuführen ist. Damit werden in einem genialen theologischen und künstlerischen Griff zwei Andachtsbilder miteinander verbunden: die Schreinmadonna mit dem Motiv der Schutzmantelmadonna – in der Kunstgeschichte die großartige Synthese eines ikonografischen Entwicklungsprozesses, der als frühe abendländische Sakralkunst erst in den letzten Jahrzehnten neue Beachtung und kunsthistorische Forschung erfährt.
Ein ausdrückliches Bildverbot für Schreinmadonnen wurde zwar nie ausgesprochen, aber de facto kam es zu einem Verbot der Schreinmadonnen. Allen voran verurteilte der einflussreiche scholastische Theologe Jean Gerson (1363 – 1429), Kanzler der Universität Paris, die Darstellung der Trinität im Innern einer Frau. Sie könne vom einfachen Volk so ausgelegt werden, als ob das Weibliche die männliche Gottheit überrage. Auf dem Konzil von Trient (1545 – 1563) wurde indirekt zu ihrer Zerstörung aufgerufen– man/Mann überließ die Entscheidung den Bischöfen. Der Psychoanalytiker Erich Neumann prangert den Umgang der offiziellen Kirche mit den Schreinmadonnen so an: „Die Vierge ouvrante, die von außen die bekannte und so bescheidene Mutter mit dem Kind ist, verrät das in ihr verschlossene ketzerische Geheimnis, wenn sie sich öffnet. Gott-Vater und Sohn, die sonst als himmlische Herren die erniedrigte und erdhaft „nur Weibliche“ gnadenweise zu sich erheben, erweisen sich als in ihr enthalten und als „Inhalte“ ihres alles bergenden Lebens“ (Neumann, 310). Hunderte und Tausende dieser sakralen Kunstwerke wurden mit Sicherheit zerstört, aber die Menschen ließen sich ihre Erfahrungen mit der Mutter ihres Gottes nicht gänzlich verbieten: sie versteckten „ihre“ Madonna auf Dachböden oder nagelten sie zu, so dass die Gläubigen ihr inneres Geheimnis weiterhin verehren konnten.
In jetziger Zeit rücken die Schreinmadonnen erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit von TheologInnen und KunsthistorikerInnen – als spannende und brisante Werke der Frauengeschichte.
(Text von 2023)
Verfasserin: Christa Matenaar
Zitate
Ich lese beständig drei Buchstaben, einen schwarzen, einen roten und einen goldenen. In dem schwarzen lese ich mein großes Elend, meine Schwachheit, Sünde und Straffälligkeit, in dem roten lese ich Jesu unbeschreibliches Leid und in dem goldenen die Größe der himmlischen Seligkeit und wie sehr Gott mich liebt.
Meine allerliebste, einzige Tochter, achte auf das Gnadenwirken Unseres lieben Herrn in Dir und in mir…Gib wohl acht, dass Du hinter geistlichem Schein nicht ein weltliches Leben verbirgst…Achte auf Dich selbst und meide das Böse!
Die unruhig machende Liebe: Sie macht den von der Liebe verwundeten Menschen so unruhig, dass er hin und her geht und läuft und den sucht, den seine Seele liebt… Die weise Liebe: Sie ist die Meisterin, Hüterin und Bewahrerin der anderen Arten der Liebe
Herr Jesu Christ, …gib den Augen meiner Seele ein großes neues Licht, auf dass ich klar erkennen und schauen möge Dich und mich…Gib auch, lieber Herr, dem Riechen meiner Seele, dass mir die Tugend und die Gerechtigkeit angenehm duften, aber Ungerechtigkeit, Untugend und jegliche Sünde sehr stinken.
Links
Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters. Leben der zeligen vouwen Dorothee. Repertorium Fontium 6, 360. geschichtsquellen.de. München, Bayrische Akademie der Wissenschaften.
Online https://www.geschichtsquellen.de/werk/3087, zuletzt geprüft am 14.06.2024.
Schäfer, Joachim. Dorothea von Montau. Stuttgart, Ökonomisches Heiligenlexikon.
Online https://www.heiligenlexikon.de/BiographienD/Dorothea_von_Montau.html, zuletzt geprüft am 14.06.2024.
Ostpreußisches Landesmuseum Lüneburg. (2020, 26. März). Lieblingsstücke: Dr. Jörn Barfod über die “Schreinmadonna”. Youtube.
Literatur & Quellen
Quellen
Gertsman, Elina (2015): Worlds within. Opening the medieval shrine Madonna. University Park, Pennsylvania. The Pennsylvania State University Press. ISBN 9780271064017.
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Neumann, Erich (1989): Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten. 9. Aufl. Olten, Freiburg im Breisgau. Walter. ISBN 9783530608625.
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Radler, Gudrun (1990): Die Schreinmadonna »vierge ouvrante«. Von den bernhardinischen Anfängen bis zur Frauenmystik im Deutschordensland ; mit beschreibendem Katalog. Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1986. Frankfurt/Main. Kunstgeschichtliches Inst. der Johann-Wolfgang-Goethe-Univ. (Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte, 6) ISBN 3923813058.
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Rentschler, Michael (2002): »Die innere Arbeit ist gar selten«. Psycho-historische Rekonstruktionen zur Heiligen Dorothea von Montau (1347-1394). Reutlingen. M. Rentschler. (Forschungsergebnisse und Materialien / Deutsches Institut für Fernstudienforschung an der Universität Tübingen) ISBN 9783831137046.
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Rimmele, Marius (2010): Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. Semantisierungen eines Bildträgers. Teilw. zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 2006. München, Paderborn. Fink. ISBN 9783770549696.
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Stachnik, Richard und Triller, Anneliese (Hg.) (1946): Dorothea von Montau. Eine preußische Heilige des 14. Jahrhunderts ; anlässlich ihrer Heiligsprechung im Auftrage des Historischen Vereins für Ermland e.V. Münster in Westfalen. Historischer Verein für Ermland.
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Zierhut-Bösch, Brigitte (2008): Ikonografie der Mutterschaftsmystik. Interdependenzen zwischen Andachtsbild und Spiritualität im Kontext spätmittelalterlicher Frauenmystik. Zugl.: Wien, Univ., Dipl.-Arb., 2008 [erm.]. 1. Aufl. Freiburg im Breisgau. Rombach. (Rombach Wissenschaften) ISBN 9783793095293.
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Weiterführende Literatur
Classen, Albrecht. (2015) Wounding the Body and Freeing the Spirit: Dorothea von Montau’s Bloody Quest for Christ, a Late-Medieval Phenomenon of the Extraordinary Kind. In: Tracy, Larissa. DeVries, Kelly. Wounds and wound repair in Medieval culture. Band 1, S. 417-447. Leiden, Brill. ISBN 978-9004292796.
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Hörner, Petra (1993): Dorothea von Montau. Überlieferung - Interpretation; Dorothea und die osteuropäische Mystik. Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1992. Herausgegeben von Carola L. Gottzmann. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Lang. (Information und Interpretation, 7) ISBN 9783631458013.
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Johannes; Triller, Anneliese et al. (1992): Liber de festis magistri Johannis Marienwerder. Offenbarungen der Dorothea von Montau. Köln. Böhlau. (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 25) ISBN 3412048917.
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Stachnik, Richard und Triller, Anneliese (Hg.) (1978): Die Akten des Kanonisationsprozesses Dorotheas von Montau von 1394 bis 1521. Köln, Wien. Böhlau. (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 15) ISBN 9783412063764.
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Westphälinger, Ariane (2007): Der Mann hinter der Heiligen. Die Beichtväter der Elisabeth von Schönau, der Elisabeth von Thüringen und der Dorothea von Montau. Krems. Medium Aevum Quotidianum. (Medium aevum quotidianum Sonderband, 20) ISBN 9783901094231.
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