Biographien Christina Thürmer-Rohr
(Prof. Dr. phil Christina Thürmer-Rohr, Dipl. Psych.)
geboren am 17. November 1936 in Arnswalde, Brandenburg (später Pommern, heute Choszczno, Polen)
deutsche Sozialwissenschaftlerin, feministische Theoretikerin und Musikerin
85. Geburtstag am 17. November 2021
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen • Bildquellen
Biografie
Christina Thürmer-Rohr ist eine unserer einflussreichsten Theoretikerinnen des deutschen Feminismus. Sie ist eine unbequeme Denkerin, die Akzente setzte und aus dem Feminismus heraus und in ihn hinein wirkt. Mit ihrem autobiografisch gefärbten feministischen Essayband „Vagabundinnen“ von 1987 inspirierte und provozierte sie ganze Frauengenerationen. Darin beschrieb sie „geistiges und psychisches Vagabundieren als die einzige Art, in der Realität anzukommen.“ Eine schöne Stelle aus „Vagabundinnen“ lautet: „Der verlässlichste Widerstand stammt aus der Fähigkeit zu leben – unversöhnt mit den Zurichtungen an uns und unversöhnbar mit unserer Mittäterschaft.“
Für Christina Thürmer-Rohr setzt jede Reflexion und jede Orientierung voraus, dass wir unserer Zeit ungebunden und fremd begegnen. Dabei geht es ihr um ein: „existentiell motiviertes Lernen mit offenem Ausgang, um den Versuch des Experimentierens an der Schmerzgrenze.“
Ab 1972 hatte Christina Thürmer-Rohr eine Professur für Erziehungswissenschaften an der TU Berlin - bis zu ihrer Emeritierung 2005. 1976 ruft sie den heute selbstverständlichen Studien- und Forschungsschwerpunkt „Frauenforschung“ ins Leben und unterrichtet Feministische Theorie, Menschenrechte und Erinnerungskultur. Ebenso ist sie Mitbegründerin und Vorstand des Vereins „Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e.V.“ in Köln. Umweltzerstörung, die Nato- und Nachrüstungsdebatte und Tschernobyl bringt sie in Opposition zur so genannten Schändlichkeit des Patriarchats. Als sie dann auch noch die gesellschaftliche „Mittäterschaft“ von Frauen vertritt, setzt sie sich damit zwischen alle Stühle. Frauen seien nicht ausschließlich Opfer des Patriarchats, ist ihre These, ihr Handeln diene dem System. „Feminismus“ ist für sie eine per se gegen den Strom gerichtete Denkweise. „Der Mainstream ist ein erbärmliches und außerdem kein harmloses Gewässer,“ sagt sie. Für ihre These über Heimatlosigkeit von Frauen, dem Nicht-Dazugehören, Nicht-Verortet- und Fremdsein, findet sie schon eher feministische Zustimmung. Ihre Intention ist Freundschaft, denn, so sagt sie, im Gegensatz zur Schwesternschaft, die verkleistere, lasse Freundschaft Differenzen zu.
Dass Christina Thürmer-Rohr neben ihrer Virtuosität in der Welt der Wissenschaft auch leidenschaftliche Musikvirtuosin ist, nimmt seinen Anfang ausgerechnet in Bielefeld-Bethel. Denn dorthin verschlägt der Krieg 1945 die Achtjährige zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter. Der Vater, ein Pfarrer, war 1941 als freiwilliger Soldat gefallen. Bis zum Abitur wohnt Christina Thürmer-Rohr von 1945 bis 1956 in Bethel am Friedhofsweg, dem heutigen Remterweg. In Bethel wird ihre Musikalität offensichtlich früh erkannt, denn bereits mit 15 Jahren ist sie bis zum Abitur 3 Jahre in der Zionskirche Hilfsorganistin. Bis heute spielt sie mit Passion Orgel und Klavier. Ihre wissenschaftlichen Ausdrucksformen finden also schon früh eine künstlerisch-musikalische Erweiterung.
In den so genannten wilden 1980er Jahren ist Christina Thürmer-Rohr, neben ihrer Uni-Tätigkeit und dem Umsorgen ihres 1972 geborenen Sohnes Til, auch noch Texterin, Pianistin und Sängerin in einer experimentellen Frauen-Rockband, die natürlich im Sinne der Erfinderin „Außerhalb“ heißt und Teil war einer euphorischen und experimentierfreudigen Zeit, einer Zeit des feministischen Aufbruchs. Die Moderatorin Gitti Hentschel bringt es in Berlin 2014 bei der Film-Premiere des Films „anfangen“ von Gerd Conradt über Christina Thürmer-Rohr auf den Punkt: „Christina Thürmer-Rohr habe als Feministische Theoretikerin wie als Musikerin ... Säle gefüllt, elektrisiert und begeistert, aber auch empört, zum Auseinandersetzen und Diskutieren angeregt, Widerspruch und Kritik hervorgerufen.“ – Eine Schallplatte der Frauenrockband existiert tatsächlich noch, die anzuhören auch heute immer wieder gute Laune macht. Hier eine kleine Textprobe von Christina Thürmer-Rohrs Song „Du glaubst zu viel“: „Ach meine Liebe / du glaubst zu viel./ Kannst du nur leben / Wenn du was glaubst? / Ich glaube gar nichts / Und lebe immer noch. ///// Ich lebe immer noch / Ich lebe immer lieber / Ich liebe immer wieder / Ich liebe immer lieber / Ich glaube gar nichts.“
Ende der 1980er Jahre läuft im WDR-Fernsehen die Serie „Unerhört“ über die deutsche Frauenbewegung. Darin ist vor allem eine so genannte Performance von Christina Thürmer-Rohr unvergesslich, denn umwerfend und theaterträchtig sitzt sie mit Weste und kurzärmeligem Hemd und hennaroten halblangen Haaren am Klavier, an den Füßen selbst gestrickte weiße Wollsocken und spielt und singt mit androgynem Charme das grandiose Liebeslied der Comedian Harmonists: „Du bist nicht die Erste, du musst schon verzeih’n, aber meine Letzte, die könntest du sein.“
Weder Christina-Thürmer-Rohr noch ihr Regisseur Gerd Conradt konnten diesen Fernsehspot für den Film „anfangen“ auftreiben, wo er eigentlich hineingehört hätte.
In den 1990er-Jahren entdeckt Christina Thürmer-Rohr Hannah Arendts „dialogisches Prinzip,“ ihr sogenanntes „Denken ohne Geländer.“ Die leidenschaftliche Denkerin Arendt bestätigt Christina Thürmer-Rohr, Erkennen und Handeln nicht zu trennen und die Bodenlosigkeit, die freies Denken auslösen kann, zuzulassen. In einem klugen Essay „Am Thema bleiben (Fugen fürs Hören, fürs Sehen und fürs Denken)“ hat Christina Thürmer-Rohr J.S. Bachs „Kunst der Fuge“ und Hannah Arendts „Übungen im politischen Denken“ beeindruckend zusammen zu bringen versucht. Das insistierende und verknüpfende Denken in der metaphorisch zu begreifenden Fuge von Bach zusammen mit dem Pluralitätsbegriff, dem Verschiedensein der Menschen bei Hanna Arendt ist für sie gleichbedeutend mit der Liebe zur Welt.
Seit 2003 lebt Christina Thürmer-Rohr eine neue Leidenschaft, sie gründet den Verein Akazie 3 in Berlin-Schöneberg, den sie „Forum zum politischen und musikalischen Denken“ nennt. Dieses Forum, das an die Salons der 20er Jahre erinnert, hat sie gemeinsam mit der Schweizer Komponistin und Pianistin Laura Gallati, mit der sie seit dieser Zeit zusammenarbeitet und zusammenlebt, initiiert. Es gibt monatlich Vorträge, Konzerte und Colloquien, die verknüpft werden mit politischen, philosophischen und musikalischen Fragen. Die Liste der dort behandelten Themen ist bereits gewaltig angewachsen in den 11 Jahren seiner Existenz und kann im Internet eingesehen werden.
(Text von 2016)
Am 17. November 2016 wird Christina Thürmer-Rohr 80 Jahre alt.
Wer Lust hat, mit ihr zu feiern, auf sie anzustoßen, sie mit ihrer Lebensgefährtin Gallati am Flügel zu erleben, kluge Reden über sie zu hören, hat hierzu am 26. November ab 19 Uhr die Gelegenheit in der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie, Schumann-Str. 8, 10117 Berlin.
Verfasserin: Brigitte Siebrasse
Zitate
Zitate von Christina Thürmer-Rohr:
Der verlässlichste Widerstand stammt aus der Fähigkeit zu leben – unversöhnt mit den Zurichtungen an uns und unversöhnbar mit unserer Mittäterschaft. (Vagabundinnen, Feministische Essays, Orlanda Verlag, 1988)
Meine „Identität“ wird nicht fragwürdig, sondern sie war es längst; ich bin ohne Ich-Ideal und weiß es. Die Fassung, der Rahmen ist zerbrochen. (Vagabundinnen, ebd.)
Ich denke, unsere Mittäterschaft entlarvt sich in dem Maße, wie wir die gegenwärtige Zeit nicht erfassen. Zur Gegenwart gehört das Wissen um die Vergangenheit. Die distanzierende Erschütterung: Wie konnte das nur passieren? ist verlogen. (Vagabundinnen, ebd., S.36)
Jeden vordergründigen Trost müssen wir radikal zurückweisen. Wenn Frauen endlich zu Nihilistinnen in diesem Sinne würden, es wäre eine revolutionäre Tat. (Vagbundinnen, ebd., S.56)
Die Frau als handelndes Subjekt zu verstehen und den Gewaltverhältnissen der Geschlechter die Zustimmung aufzukündigen, ist eine Herausforderung an eine Forschung, die sich feministisch nennt. Andernfalls wird auch Frauenforschung zur „Beihilfe zur Tat“. (Vagabundinnen, ebd., S.147)
Das neue Zauberwort „Feminisierung der Gesellschaft“ birgt in sich eine Ansammlung von Irreführungen und Verführungen. Es birgt den Bilderbrei männlicher Wunschvorstellungen, die alle mehr über die Intentionen von Männern aussagen als über das Vermögen von Frauen. (Vagabundinnen, ebd., S.109)
Erfahrungsmüdigkeit ist Ausdruck des Verlusts der Liebe zur Welt. Er ist so bedrohlich, weil mit ihm der Zerfall und die Mitarbeit am Zerfall gleichgültig wird. (Verlorene Narrenfreiheit, Essays, Orlanda Verlag Berlin, 1994)
Ungebunden, fremd dieser Zeit zu begegnen, dieser Versuch ist Voraussetzung jeder Reflexion und Orientierung. (C.T.-R.: „Einführung – Forschen heißt wühlen“ in: Mittäterschaft und Entdeckungslust, Orlanda Frauenverlag, Berichte und Ergebnisse der gleichnamigen Tagung vom 6.-10. April 1988 in Berlin.)
Moralische Schuld verweist immer auf die Person selbst als Instanz des Urteils, als Subjekt der Einsicht und des Verwerfens. (Ebd., S.13)
Mittäterschaft der Frau ist nicht ein Ausrutscher, eine gelegentliche Entgleisung, eine üble Abweichung, sondern die Norm selbst. (Ebd., S.12)
Zweifel und Anfreundung ... man kann sie erwerben, wenn man wissenschaftliche Arbeit als Teil der Welt versteht, eine Anstrengung, mit der eine Gesellschaft signalisiert, dass sie auf ihre neue Generation angewiesen ist. („Die Universität als Ort der Inspiration“, in: Mehr Bildung wagen! Bildungskrise als Machtfrage. Forum Wissenschaft Studien 51, BdWi-Verlag 2005)
Es ist naiv zu meinen, Errungenschaften könnten nicht verloren gehen. (Festrede zum Jubiläum von Lesben- und Schwulenberatung und KomBi, 3/216)
Nicht die Homosexualität (ist) das Problem, sondern die Gesellschaft, die männliche Dominanz zum Geburtsvorrecht macht und den Heterozentrismus zum Naturgesetz, zur unhinterfragten Norm und zum „ideologischen Terror“. (Ebd., S.1)
Die Arbeit der Dekonstruktion weist nicht nur den Naturcharakter der bipolaren Geschlechterordnung zurück, sondern mischt tendenziell alle festgefügten Kategorien wie „männlich“, „weiblich“, „lesbisch“, „schwul“, „heterosexuell“, „bisexuell“ etc. auf, stellt sich also quer zu allen am Maßstab der Heteronormativität fixierten Einteilungen. (Ebd., S.3)
Am Thema bleiben von Anfang bis Ende und dabei veränderbar sein. (C.T.-R. in: „Zur Kunst der Fuge“ von J.S.Bach“, s. Website Thuermer-Rohr)
Die Funken, die Bach aus dem alten Gestein der Polyphonie schlägt, bündeln sich in der „Kunst der Fuge“ zu hellem Licht, dessen Schein bis heute leuchtet. Sie bleibt exemplarisches Modell zwischen kultureller Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Gegenwart. („Zur Kunst der Fuge“ von J.S.Bach, ebd., S.8)
Menschen im Plural statt im Singular zu begreifen und das Verschiedensein anzuerkennen, ist gleichbedeutend mit der Liebe zur Welt. („Fugen fürs Denken“, C.T.-R. zu den „Übungen im politischen Denken“ von Hannah Arendt)
Links
Homepage von Christina Thürmer-Rohr
Zwei Trailer zu Gerd Conradts Film “anfangen” über Christina Thürmer-Rohr auf Youtube:
Diskussion mit Christina Thürmer-Rohr zum Film “anfangen” auf Youtube (1 Std 40 Min)
Literatur & Quellen
Veröffentlichungen (Auswahl):
- Vagabundinnen – Feministische Essays. Berlin 1987 / Frankfurt am Main 1999. (Vagabonding. Boston 1991 / Cambridge 1992)
- Verlorene Narrenfreiheit – Essays. Berlin 1994.
- Mittäterschaft und Entdeckungslust, Studienschwerpunkt „Frauenforschung“ am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin (Hg.), Orlanda Frauenverlag, Berlin 1990
- Anfreundungen mit der Welt – Jenseits des Brüderlichkeitsprinzips. In: H.Kahlert/C.Lenz (Hsg.): Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt. Königstein/Taunus 2001
- Hoffnungslosigkeit. In: Wolfgang Fritz Haug (Hsg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd.6, Hamburg 2004.
- Mittäterschaft von Frauen – Die Komplizenschaft mit der Unterdrückung. In: R.Becker/B.Kortendiek (Hsg.: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden 2004.
- Verstehen und Schreiben – Unheimliche Heimat. In: Hannah Arendt, Text + Kritik, IX, 2005.
Bildquellen
Alle Bilder wurden freundlicherweise von Gerd Conradt zur Verfügung gestellt.
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