(Charlotte Labey, geb. Durey, Pseudonym Charlotte Sohy)
geboren am 7. Juli 1887 in Paris
gestorben am 19. Dezember 1955 in Paris
französische Komponistin
70. Todestag am 19. Dezember 2025
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Charlotte Sohy kam 1887 in Paris zur Welt, als Tochter von Camille Durey und seiner Ehefrau Louise, geborene Sohy, die sehr liebevoll Buch geführt hat über die ersten Monate im Leben ihrer kleinen Tochter. Charlottes Kindheit spielte sich auf der neu bereiteten Bühne der Hauptstadt Frankreichs ab, die in diesen Jahren wuchs und wuchs und wuchs. Die ›Belle Époque‹ stand in voller Blüte, der Eiffelturm reckte sich immer höher, und die Industriellen-Familie Durey-Sohy lebte ein Leben inmitten von Musik und Kunst. Charlotte durfte Klavier- und Solfègeunterricht nehmen, saß dabei neben der gleichaltrigen Nadia Boulanger und lernte schnell.
Im Rahmen der Weltausstellung 1900 hörte sie gemeinsam mit ihren Eltern im ›Trocadéro‹ Faurés sehr zu Herzen gehendes Requiem und sprach in den darauffolgenden Tagen von nichts anderem mehr. Der Komponist Gabriel Fauré war ein oft und gern gesehener Gast im Salon von Charlottes Mutter und bemerkte, dass das mittlerweile recht gut Klavier spielende Mädchen großes Interesse für die Orgel zeigte. Nett und immer um andere bemüht, wie Fauré nun einmal war, vermittelte er sogleich einen guten Lehrer, und der technikbegeisterte Vater ließ gar eine Orgel ins eigene Haus einbauen, auf der Charlotte von nun an üben konnte.
1904 begann sie, Kompositionsunterricht bei Mel Bonis zu nehmen; aus dieser Zeit stammt auch ihre erste Veröffentlichung: eine Bearbeitung des Klavierquintettes von César Franck für Klavier zu vier Händen [1].
Kurz darauf trat Charlotte in die neugegründete ›Schola Cantorum‹ ein, wurde dort unterrichtet von Alexandre Guilmant, Louis Vierne, Vincent d’Indy und lernte bald ihren späteren Ehemann, den Komponisten Marcel Labey, kennen. Liebe auf den ersten Blick soll es gewesen sein und die beiden heirateten 1909. Nach kurzer Zeit kam das erste Töchterchen zur Welt, und im selben Jahr traf Charlotte eine wichtige Entscheidung, sie signierte nämlich ihre Klaviersonate op. 6 mit dem Namen ihres Großvaters mütterlicherseits: Charles Sohy oder kurz Ch. Sohy. Was für Frauen im Paris einer Élisabeth Jaquet de la Guerre, also 200 Jahre zuvor, kaum ein Problem gewesen wäre, stellte sich für Musikerinnen im 20. Jahrhundert nämlich ganz anders dar: Komponistinnen hatten es sehr schwer, ernst genommen zu werden. Charlotte griff also, wie auch schon Mel Bonis einige Jahre zuvor, auf einen möglichst neutralen Namen zurück. Die Musik, die ihrer Feder entsprang, war heiter und spielerisch, manchmal auch ernst und nachdenklich, aber immer gepaart mit dem Ausdruck größter Zuversicht.
Im ersten Weltkrieg wurde Charlottes Ehemann schwer verwundet; einige Tage musste die Familie sogar annehmen, er wäre gefallen. Nach dem herbeigesehnten Kriegsende zogen die Labeys mit ihren unterdessen vier Kindern in die Normandie. Dort konnte Charlotte die im Krieg begonnene Symphonie in cis-moll Grande Guerre[2] beenden, eine Oper zu Texten der Nobelpreisträgerin von 1909, Selma Lagerlöf, schreiben[3] und in den folgenden Jahren außerdem drei weitere Kinder zur Welt bringen. In ihren klangstarken Kompositionen dieser Zeit ist deutlich der Wunsch nach Friede und Brüderlichkeit, nach christlicher Nächstenliebe und Freude an der Schöpfung wahrzunehmen. Das Wort ›neoromantisch‹ beschreibt ihr Klangwollen gut, aber auch impressionistische Brüche sind in den größtenteils klaren Strukturen zu bemerken.
Diese Jahre voller Lebens- und Kompositionsfreude wurden vom 2. Weltkrieg brüsk unterbrochen – schon wieder Krieg. Hunger, Todesangst und Zukunftssorgen ließen Charlotte beinahe verzweifeln; zum zweiten Mal in ihrem Leben verlor die Zukunft jegliche Perspektive. Die Familie verbrachte die Kriegsjahre schließlich an der nordbretonischen Küste, und Charlotte schrieb weiter, diesmal keine Musik, sondern ihre Erinnerungen.
Als auch dieser Krieg endlich beendet war, komponierte sie ein zweites Streichquartett; gut 15 Jahre nach dem ersten aus dem Jahre 1933 zu Papier gebracht, lässt es ganz andere Klangwelten entstehen, die deutlich von den Entbehrungen und Verlusten der Kriegsjahre geprägt sind – düster und getragen die Melodien, dramatisch und ›moll-lastig‹ die Harmonien.
1947 wird endlich ihre 30 Jahre zuvor komponierte Oper L‘Esclave couronnée (s. o.) an der Oper von Mulhouse aufgeführt. Zwei quälend lange Weltkriege hatten die Aufführung zuvor verhindert.
In ihren letzten Lebensjahren schreibt Charlotte geistliche Musik, teilweise mit eigenen Texten. Und sie bringt ihre Erinnerungen weiterhin zu Papier[4], aus denen herauszulesen ist, dass sie sich ihrer privilegierten Position innerhalb einer begüterten Familie und einer auf Liebe basierenden Ehe durchaus bewusst ist.
1955 stirbt die Komponistin Charlotte Sohy, im bürgerlichen Leben Charlotte Labey, recht überraschend und hinterlässt einen untröstlichen Ehemann, der die Musik seiner Frau bis an sein eigenes Lebensende immer seiner eigenen vorziehen wird.
Folgende Sätze stammen aus einem Interview mit Charlottes Enkelsohn François-Henri Labey, der seit einigen Jahren ihr Werk sichtet und sich um die Wiederbelebung bemüht. Er erzählte von dieser Antwort, die Marcel Labey einem Bewunderer seiner Musik gab. »Danke, dass Ihnen meine Musik gefällt. Aber hören Sie sich lieber die meiner Frau an. Wenn Sie glauben, ich sei talentiert, dann war sie ein Genie.«[5] Die Worte eines seine Frau ehrlich bewundernden und liebenden Ehemannes.
(Text von 2023)
[1] Ein Klavierquintett ist meist ein Werk mit der Besetzung 2 Violinen, Viola, Violoncello und Klavier. Mit einer Bearbeitung für Klavier zu vier Händen konnte man in der damaligen Zeit mehr Interessierte erreichen.
[2] Großer Krieg
[3] Der gekrönte Sklave, lyrisches Drama in drei Akten und einem Prolog. Text von Ch. Sohy nach der Erzählung Astrid von S. Lagerlöf
[4] Leider sind Charlottes Memoiren nicht verlegt. Man kann allerdings einige Zitate daraus in der Neuausgabe des Journal 1894-1927 von Marguerite de Saint-Marcaux, Paris 2007, nachlesen.
Weitere Frauenbiografien der Autorin finden Sie in diesem Buch:
Weinberger, Anja (2023): Frauengeschichten: Kulturgeschichten aus Kunst und Musik. 1. Auflage. Grieskirchen. Der Leiermann. ISBN 978-3-903388-41-3.
(Zum Buch)
Verfasserin: Anja Weinberger
Literatur & Quellen
La Boite à Pépites: online https://www.youtube.com/@LaBoiteaPepites
Launay, Florence: Les compositrices en France au XIXe siècle, Paris, Fayard 2006
Villanove, Camille: Elles composent, Charlotte Sohy, renaissance d’une compositrice – online: https://www.presencecompositrices.com/mag/charlotte-sohy-renaissance-dune-compositrice/
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