(Ehename: Charlotte Nagler)
geboren am 16. April 1917 in Berlin
ermordet in Auschwitz am 10. Oktober 1943
deutsche Malerin und Dichterin
80. Todestag am 10. Oktober 2023
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Als Schülerin wurde sie als talentlos angesehen, während ihr Hauptwerk „Leben? Oder Theater? Ein Singespiel“, das aus 765 Gouachen besteht, heute als einzigartiges Kunstwerk gilt. Es ist in drei Teile gegliedert, und die junge Künstlerin berichtet darin von ihrem Leben - eine Art Autobiografie, in der jedoch das Wort „ich“ nicht vorkommt. Hauptperson ist eine fiktive Charlotte Kann (Salomon selber wurde immer nur Lotte genannt). Auch andere Personen aus Salomons Umgebung bekamen neue Namen. Es ist eine ganz ungewöhnliche Mischung aus Bildern und Text, inspiriert von Musik.
Der Prolog erzählt Charlottes Leben von der Geburt bis zur Kunstakademie. Der Hauptteil handelt von der Bekanntschaft mit Amadeus Daberlohn (im realen Leben: Alfred Wolfsohn), der Epilog umfasst die Zeit in Südfrankreich von 1939 bis 1942.
Als Charlotte Salomon 1917 geboren wurde, war ihr Vater, Dr. Albert Salomon, noch als Chirurg im Krieg. Ihre Mutter Franziska, genannt Fränze, war Krankenschwester und starb, als ihre Tochter acht Jahre alt war. Charlotte war ein einsames Kind, fand aber Unterstützung bei zwei Frauen: einem Kindermädchen und Paula Lindberg, einer berühmten Mezzosopranistin, der zweiten Frau ihres Vaters, die ihre große Liebe wurde. In „Leben? Oder Theater?“ ist sie als Paulinka Bimbam wiederzuerkennen, ihr Vater als Doktor Kann.
Von einem Kindermädchen wurde sie ans Malen herangeführt und merkte schnell, dass darin ihre Zukunft lag. Sie entwickelte eine Leidenschaft dafür, ihre Stiefmutter zu zeichnen. Trotzdem galt sie in der Schule als untalentiert. Bis 1933 besuchte sie die Fürstin-Bismarck-Schule. Warum sie sie zu diesem Zeitpunkt verließ, ist unklar, gezwungen wurde sie anscheinend nicht, und andere jüdische Mädchen blieben dort auch weiterhin.
Nach dem Wahlsieg der Nazis erlebte Charlotte Salomon in ihrer eigenen Familie, welche Konsequenzen dieser nach sich zog: Ihr Vater wurde entlassen und durfte nur noch im Jüdischen Krankenhaus arbeiten. Paula Lindberg durfte sich nur noch im Kulturbund Deutscher Juden engagieren und in jüdischen Zusammenhängen auftreten. Dass beide auch im Untergrund tätig waren, erfuhr ihre Tochter, die sie immer zu schützen versuchten, nie.
Da ihre Stiefmutter meinte, dass mit Kunst kein Geld zu verdienen sei, sollte Charlotte Salomon auf die jüdische Design-Schule gehen, wo ihr wieder einmal bescheinigt wurde, dass sie kein Talent habe. Daraufhin bemühte sie sich um Zulassung an der Kunstakademie (Vereinigte Staatsschulen für Freie und angewandte Kunst, heute: Universität der Künste Berlin) in Berlin-Charlottenburg, scheiterte jedoch an der ersten Aufnahmeprüfung. Aufgeben kam für sie aber nicht in Frage, und so drängte sie ihren Vater dazu, ihr einen Tutor zu finanzieren. Daraufhin bestand sie im zweiten Anlauf die Prüfung und wurde als eine der wenigen jüdischen SchülerInnen, die zu dieser Zeit überhaupt noch zugelassen wurden, akzeptiert. Auch bei ihr gab es Vorbehalte, aber aufgrund ihrer reservierten Art wurde sie nicht als Bedrohung angesehen. Zudem profitierte sie davon, dass ihr Vater als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs anerkannt war und sie somit unter das zeitweilige Frontkämpferprivileg fiel. Sie brauchte zu diesem Zeitpunkt einfach einen Ort, an dem sie malen konnte und versuchte sich anzupassen. Der Lehrstoff richtete sich bereits gegen die Moderne, ganz im Stil der Zeit. Während der beiden Jahre, die sie an der Akademie war, wurde ihr klar, dass die dort propagierte Art des Malens nie die ihre werden würde.
1937 lernte sie über Paula Lindberg den Musiker Alfred Wolfsohn kennen, in dem sie einen Verbündeten fand, der ihre Stiefmutter ebenfalls liebte. Sie wandte sich ihm zu und traf sich heimlich mit ihm, aber ob er wirklich ihre große Liebe war, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Er hielt ihre Begabung jedoch für überdurchschnittlich, was für sie ein Wendepunkt war und dazu führte, dass sie sich nicht mehr als Schülerin, sondern als Künstlerin sah.
Als sie bei einem Wettbewerb, bei dem die Bilder anonym eingereicht worden waren, eigentlich gewonnen hatte, was aber nach der Ausstellung „Entartete Kunst“ in der Öffentlichkeit nicht mehr zu vertreten war, verließ sie die Schule.
Nun studierte sie weiter zu Hause, brachte sich anhand von Kunstbüchern neue Arten des Malens bei und zwar genau die Kunststile, die die Nazis zu unterdrücken versuchten.
Eine Auswanderung hatte die Familie in den ersten Jahren der Diktatur nicht in Erwägung gezogen, da sie dort bleiben wollten, wo sie gebraucht wurden, vor allem ihr Vater als Arzt. Und Charlotte Salomon wollte bei den von ihr geliebten Menschen bleiben.
Nach der Reichspogromnacht änderte sich die Situation jedoch grundlegend: Der Vater wurde nach Sachsenhausen geschickt, wo er nur dank falscher Papiere, die ihm seine Frau besorgt hatte, aber als gebrochener Mann wieder herauskam. Charlotte Salomon wollte ihre Eltern nicht allein lassen, wurde aber von ihnen gedrängt, das Land vor ihrem 22. Geburtstag zu verlassen, da sie sonst einen Pass brauchen würde, den sie als Jüdin nicht mehr bekommen würde. Als Vorwand gaben sie an, sie werde von ihren angeblich kranken Großeltern in Südfrankreich gebraucht.
So verließ sie das Land im Januar 1939 und reiste nach Frankreich, ihre Eltern fuhren zwei Monate später nach Amsterdam. Sie hatten an sich vor, ebenfalls nach Südfrankreich nachzukommen, was jedoch aufgrund des Kriegsbeginns vereitelt wurde. War erst noch Briefkontakt möglich, so riss dieser nach der Besetzung der Niederlande 1940 ab.
In Südfrankreich lebte Charlotte Salomon mit ihren Großeltern in Villefranche-sur-mer in der Villa L'Ermitage, die einer Freundin von ihnen, der Amerikanerin Ottilie Moore, gehörte. Diese war im Widerstand aktiv und unterstützte zahlreiche ExilantInnen sowie Kinder, deren Eltern verhaftet oder tot waren. Da die Großeltern jedoch Schwierigkeiten mit Ottilie Moore hatten, zogen sie mit Charlotte nach Nizza.
Erst als ihre Großmutter sich 1940 das Leben genommen hatte und zwar auf die gleiche Weise wie Charlotte Salomons Mutter - beide sprangen aus dem Fenster -, erfuhr sie von dem belastenden Familiengeheimnis, dass nicht nur ihre Mutter, sondern auch deren Schwester und diverse andere Familienmitglieder sich das Leben genommen hatten. Diese Enthüllung war ein Schock für sie und stürzte sie in eine tiefe Krise; sie hatte Angst davor, selber verrückt zu werden und sich das Leben zu nehmen. Um ihren Verstand nicht zu verlieren, entschloss sie sich, ihr Leben aufzuzeichnen. In dieser Familiengeschichte betont sie das Leid der Frauen und das Grauen der Kriegszeit, sie zeigt das Dilemma der Frauen auf: in einer Welt leben zu müssen, die für sie unerträglich war. Eugenik als Grund für die gehäuften Selbstmorde gab sie nicht an, obwohl dies zu dieser Zeit eine weit verbreitete Erklärung war. Wo Salomon bis dahin konventionelle Bilder gemalt hatte, die sich verkaufen ließen, wandte sie sich nun persönlichen Motiven zu. So malte sie für die Großeltern zu deren 50. Hochzeitstag eine kleine Geschichte, in die die Erzählungen ihrer Großmutter eingeflossen waren.
Aber auch in Südfrankreich spitzte sich die Lage zu, und Charlotte Salomon und ihr Großvater wurden im Sommer 1940 für etwa zwei Monate im Lager Gurs interniert. Nach ihrer Entlassung hing ihre Aufenthaltsgenehmigung davon ab, dass Charlotte bei ihrem Großvater lebte und für ihn sorgte.
Nach der Entlassung aus Gurs stand Charlotte vor der Frage, ob sie sich das Leben nehmen sollte oder etwas ganz Besonderes, etwas ganz Verrücktes tun. Sie entschied sich für Letzteres: eine künstlerische Autobiografie. Da sie mit ihrem Großvater ständig Schwierigkeiten hatte, zog sie Ende 1941 nach St. Jean Cap Ferrat in ein kleines Hotel. Dort malte sie die ganze Zeit, während sie ständig vor sich hin summte - die Musik war ihre Inspiration. Erst waren für sie die Melodien da, die meisten Lieder stammten aus dem Repertoire von Paula Lindberg. Sie fing an, die Musik auf der einen Seite ihres Papieres zu notieren, drehte es dann um und begann an zu malen. Der Großteil ihrer Gouachen entstand vermutlich in den Jahren 1940 bis 1942, sie malte über 1.000 Szenen, die sie im Nachhinein selber sortierte und nummerierte.
Nach dem Tode ihres Großvaters im Mai 1943, zu dem sie noch kurz zurückgekehrt war, zog sie wieder zurück in die Villa L'Ermitage. Einen Monat später heiratete sie Alexander Nagler, einen österreichischen Exilanten, der dort bereits seit einiger Zeit lebte.
Am 24. September 1943 wurden die beiden aufgegriffen und in das Durchgangslager Drancy östlich von Paris gebracht, von dort aus Anfang Oktober nach Auschwitz. Charlotte Salomon, die zu dieser Zeit im fünften Monat schwanger war, wurde vermutlich gleich bei ihrer Ankunft ermordet, ihr Name taucht auf keiner der Listen von Auschwitz auf. Ihr Mann kam ins Arbeitslager, wo er nach drei Monaten starb.
Ihr Hauptwerk “Leben? oder Theater?” befindet sich heute im Jüdischen Museum in Amsterdam.
(Text von 2013)
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
Ich habe das, was van Gogh in seinem Alter erreichte… nämlich jene unerhörte Leichtigkeit des Striches, die leider sehr viel mit dem Pathologischen zu tun hat, schon jetzt erreicht.
(Charlotte Salomon)
Der Krieg tobte weiter, und ich saß da am Meer und sah tief hinein in die Herzen der Menschen. Ich war meine Mutter, meine Großmutter, ja, alle Personen, alle Personen, die vorkommen in meinem Stück, war ich selbst.
(Charlotte Salomon)
Links
Charlotte Salomon - Wikipedia.
Joods Historisch Museum. Zahlreiche Informationen und Links, Sammlung von Charlotte Salomons Werken.
kunstaspekte: Charlotte Salomon. Informationen zu Ausstellungen mit Werken Charlotte Salomons.
Wysocki, Gisela von: Illusionen der Zugehörigkeit. Über Charlotte Salomons Bilderteppich “Leben? oder Theater?” und einen Essay von Astrid Schmetterling.
Links geprüft und korrigiert am 03. Oktober 2018 (AN)
Literatur & Quellen
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Joods Historisch Museum: Charlotte Salomon. De complete collectie (CD-ROM). Leben oder Theater: Bilder, Musik, Texte, Fotos usw. ; Dokumentation. (zu beziehen über den Museumsshop des Joods Historisch Museum)
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Filme
- Charlotte (1980, Judith Herzberg & Franz Weisz)
- May You Never Forget My Faith in You (1986, Kees Hin)
- Die eigene Geschichte (1987, Hannelore Schäffer)
- C'est toute ma vie (1992, Richard Dindo & Esther Hoffenberg)
- Life? Or Theatre? (2012, Franz Weisz)
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