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geboren am 6. Juni 1950 in Brüssel
gestorben am 5. Oktober 2015 in Paris
belgische Filmregisseurin, Schauspielerin und Videokünstlerin
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Chantal Akerman war gerade 18 Jahre alt, als 1968 ihre erste Arbeit bei den Oberhausener Kurzfilmfestspielen Aufsehen erregte: In Saute ma ville (etwa: Explodier, meine Stadt) zeigte sie in 13 Minuten, gedreht in der eigenen Wohnung, eine junge Frau (gespielt von ihr selbst), die in einer slapstickhaften Performance versucht, Ordnung unter den Dingen zu schaffen und doch nur immer größeres Chaos produziert, am Ende sich selbst und ihre Küche mit dem aufgedrehten Gasherd in die Luft jagt. Schon diese Erstlingsarbeit enthielt manche Elemente ihres Lebenswerks: den Hang zum Tragikomischen, die Auseinandersetzung mit weiblichem Eingesperrtsein, die Verarbeitung persönlicher Lebenserfahrung und unausgesprochener familiärer Erinnerung.
Aufgewachsen war Chantal Akerman in einer polnisch-stämmigen, assimilierten jüdischen Migrantenfamilie. Ihre Eltern, die in Brüssel eine kleine Lederwarenhandlung betrieben, waren Holocaustüberlebende, sprachen aber nie über ihre traumatischen Erlebnisse. Das „lärmende Schweigen“ der Mutter (das diese erst in hohem Alter zum ersten Mal brach) wurde, wie sie sagte, eine der Hauptantriebsfedern für Akermans filmische Recherche, ihre Beschäftigung mit der eigenen jüdischen Identität, mit Verlust, Heimatlosigkeit, Entwurzelung.
Mit 17 hatte Akerman die Schule abgebrochen, einige Monate eine belgische Filmhochschule besucht, kurzzeitig in Paris an einer Theaterhochschule studiert, in einem israelischen Kibbuz gearbeitet, um schließlich, Anfang der 70er Jahre, in New York zu landen, wo sie tief eintauchte in die Filmwelt der amerikanischen Avantgarde. Mit geringen finanziellen Mitteln und viel Unterstützung befreundeter KünstlerInnen, u.a. der Kamerafrau Babette Mangolte, entstanden in den folgenden Jahren ihre ersten längeren Filme: Hotel Monterey, eine experimentelle Dokumentation über eine New Yorker Obdachlosenunterkunft, und Je, tu, il, elle, ein 90minütiger Spielfilm über die kühne Selbsterforschung einer jungen Frau. Die im dritten Teil des Films ausführlich gezeigte Liebesszene zwischen Akerman und ihrer Filmpartnerin Claire Wauthion machte ihn zu einem Meilenstein der Lesbenfilm-Geschichte.
1974 drehte sie in zwei Monaten mit einer fast komplett weiblichen Crew den Film, der bis heute als ihr Meisterinnenwerk gilt: Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, mit der bekannten französischen Schauspielerin Delphine Seyrig in der Hauptrolle - drei Tage im Leben einer belgischen Hausfrau, Witwe, alleinerziehende Mutter eines halbwüchsigen Sohnes, die durch Gelegenheitsprostitution ihren Lebensunterhalt aufbessert. Der über dreistündige Film, mit einer weitgehend statischen Kamera und den immer gleichen Bildausschnitten aufgenommen, zeigt die minutiös organisierte Alltagsroutine aus aufräumen, putzen, kochen, Abendessen mit dem Sohn mit derselben kontrollierten Präzision wie den Empfang des täglich wechselnden Freiers. Als am 3. Tag Brüche in der Routine auftauchen, der Protagonistin kleine Ungeschicklichkeiten unterlaufen, sie einen offensichtlich ungewollten Orgasmus erlebt, ersticht sie den Freier mit einer Schere von der Frisierkommode. Präsentiert 1975 in Cannes, wurde der Film aufgrund seiner inhaltlichen und formalen Radikalität als erstes bedeutendes Beispiel einer „weiblichen Filmsprache“ gefeiert – was Akerman eher als Einengung empfand. Ihrer Meinung nach, „sollte es so viele verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten geben, wie es verschiedenartige Frauen gibt, die Filme machen“.
Nach dem großen Erfolg von Jeanne Dielman, der die gerade 25jährige Regisseurin zum Shooting Star eines neuen europäischen AutorInnenkinos gemacht hatte, verfolgte sie in den nächsten Jahrzehnten weiter, unbeirrt, ihre Suche nach einer eigenen Filmsprache in ganz unterschiedlichen Genres – stark autobiografisch geprägte Arbeiten (u.a. News from Home, 1976, mit Aufnahmen von New Yorker Straßenszenen kombiniert mit leise gelesenen Auszügen aus Briefen, die ihre liebevoll besorgte Mutter der rebellischen Tochter ins ferne Amerika schrieb), subtile Kritiken an der amerikanischen Musicaltradition (z.B. Golden Eighties, 1988, über Liebesverwirrungen unter den „working girls“ eines Brüsseler Einkaufszentrums mit Gesangs- und Tanzeinlagen), Literaturverfilmungen (u.a. Die Gefangene, 2000, nach einem als eigentlich unverfilmbar geltenden Romankapitel von Marcel Proust mit der großartigen Sylvie Testud in der weiblichen Hauptrolle, ein bedrückendes Kammerstück über Eifersucht, Besessenheit, die Unmöglichkeit der Liebe), seit den 90er Jahren eine Serie von beeindruckenden Dokumentarfilmen über Osteuropa nach dem Mauerfall mit visuellen Anspielungen auf Deportation, Holocaust, Gulag; Rassenkonflikte im Süden der USA; illegale Migration an der amerikanisch-mexikanischen Grenze - Impressionen und Zufallsbegegnungen, gedreht in langen Einstellungen, ihrem „Markenzeichen“, die es erst ermöglichen, wie sie meinte, dass für die Zuschauer „das Unsichtbare sichtbar“ wird.
Viel beachtet von der Fachkritik, wichtiges Vorbild für die Arbeit anderer Regisseure (z.B. Gus van Sant), galten ihre Filme stets als schwierig, nicht massentauglich, und liefen v.a. in kleinen Programmkinos und auf Festivals (z.B. in einer großen Retrospektive im Centre Pompidou in Paris, 2004). Ihr Versuch, ein breiteres Publikum anzusprechen – die romantische Komödie Eine Couch in New York, 1996, mit Juliette Binoche und William Hurt - war ihr größter Misserfolg, ein Flop an der Kinokasse. Den Akerman-Fans war er nicht „Akerman“ genug, die anderen kamen gar nicht erst.
Schon früh hatte Akerman in ihrem Werk versucht, Grenzen zu überschreiten – die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation in ihren Filmen, die Grenze zwischen Film und bildender Kunst in ihren Video-Installationen. Von persönlich besonderer Bedeutung war eine Installation von 2004 mit Textauszügen aus dem Tagebuch ihrer in Ausschwitz ermordeten Großmutter und Aufzeichnungen aus einem Gespräch mit ihrer Mutter, die hier zum ersten Mal in wenigen Andeutungen von ihrer eigenen KZ-Erfahrung und der überlebenswichtigen Unterstützung durch ihre Freundin Frieda sprach. Zehn Jahre später widmete Akerman ihrer 86jährigen Mutter kurz vor deren Tod ein ausführliches Filmporträt, No Home Movie. Natalia Akerman starb im April 2014, noch vor Fertigstellung des Films. Chantal Akerman war tief getroffen von dem Verlust: „Ich frage mich, was ich jetzt, da meine Mutter nicht mehr da ist, noch zu sagen haben“. Weder das Netz aus engen Freundinnen und Mitarbeiterinnen, wie der kongenialen Schnittmeisterin Claire Atherton, noch die Liebe ihrer Lebensgefährtin Sonia Wieder-Atherton, einer Ausnahmecellistin, die viele ihrer Filme musikalisch begleitet hatte, konnten sie am Leben halten. Die Depression, an der sie schon lange gelitten hatte, gewann die Oberhand, im Oktober 2015 nahm sich Chantal Akerman in Paris das Leben, gerade 65 Jahre alt.
(Text von 2019)
Verfasserin: Andrea Schweers
Zitate
Mit einer Frau, die den Abwasch macht, habe ich Kunst gemacht. (über den Film Jeanne Dielman)
Ich mache keine Frauenfilme, ich mache Chantal-Akerman-Filme
Es gibt gute Regisseure, es gibt große Regisseure, es gibt Filmemacher, die ihren Platz in der Kinogeschichte haben, und dann gibt es die seltenen Filmemacher, die die Geschichte des Films verändern. (Nicola Mazzanti, Leiter des königlich belgischen Filmarchivs, über Chantal Akerman)
Literatur & Quellen
Schmid, Marion. 2017 (2010). French Film Directors: Chantal Akerman. Manchester University Press.
Lambert, Marianne. 2015. I don’t belong anywhere: Le cinéma de Chantal Akerman. DVD.
https://deutsches-filminstitut.de/blog/lecture-film-14/ Die Erfinderin der Formen. Das Kino von Chantal Akerman. Vorlesungsreihe am Deutschen Filminstitut Frankfurt 2018/2019.
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