geboren am 31. Mai 1915 in Havanna
gestorben am 12. Februar 2022 in New York NY
kubanisch-US-amerikanische Malerin
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
»Ich habe noch nie eine gerade Linie gesehen, die ich nicht geliebt hätte.« So die Malerin der geraden Linie, Carmen Herrera. Dazu kommt noch ihre Liebe zur Farbe: kühne starke Farben liebt sie, häufig nur zwei, Weiß und Grün, Weiß liebt sie, Grün und Schwarz. Geometrische, strenge Formen liebt sie, die ehemalige Architekturstudentin, und höchste Einfachheit. Je weniger, desto besser. Abstrakte Bilder von Anfang an, nichts Gegenständliches. Über 70 Jahre lang. Ein großes Werk entsteht und wird endlich entdeckt. Mit 89 verkauft sie ihr erstes Bild. Jetzt ist sie 101 und hatte gerade die erste Ausstellung in einem großen Museum in den USA, keine Retrospektive, wie es sich gehört hätte, sondern ihre frühen Arbeiten 1948 – 1978, die belegen, dass sie ihrer Zeit und ihren männlichen Kollegen voraus war. England und Deutschland entdeckten sie etwas früher, im Alter von 94, und zeigten eine Retrospektive.
Carmen Herrera wurde am 31. Mai 1915 in Havanna geboren in ein journalistisches Elternhaus, ihre Mutter war Journalistin, ihr Vater Herausgeber einer Zeitung. Mit acht bekam sie privaten Kunstunterricht; mit vierzehn kam sie für zwei Jahre an ein privates US-amerikanisches Internat in Paris. Sie studierte kurz Architektur in Havanna, was in den 1930er Jahren für eine Frau ungewöhnlich war, hörte aber mit dem Studium auf – was ganz normal für eine Frau war –, als sie sich in einen US-Amerikaner verliebte und ihn heiratete – Jesse Löwenthal, 13 Jahre älter als sie, Oberschullehrer. Zusammen gingen sie 1939 nach New York City. Von 1943 bis 1947 war sie Kunststudentin an der Art Students League.
Dann gingen Herrera und ihr Mann nach Paris, wo sie fünf Jahre lang, von 1948 bis 1953, lebten. Dort fand Herrera, wie sie sagte, ihre Welt im Malen: »I found my world in painting.« Sie entwickelte ihre eigene visuelle Sprache, ihren eigenen Stil: die runden Formen, die Ovale verschwanden, sie fand »die Schönheit der geraden Linie«; sie reduzierte und reduzierte. Ihr Sinn für Architektur zeigte sich in ihren strengen geometrischen Formen, ihre Farbpalette reduzierte sie auf zwei, höchstens drei Farben. Sie war erfolgreich, und ihre Bilder hingen neben Mondrian. Sie stellte mehrere Male im Salon des Realités Nouvelles aus und bewegte sich im Kreis wichtiger Künstler, die damals in Paris versammelt waren. Sie mochte Matisse und Yves Klein – im Gegensatz zu Picasso, den sie durchschaute (»wenn es was zu stehlen gibt, stehle ich«); sie war mit Genet und den Eltern von Yves Klein befreundet.
Als sie 1954 von Paris nach New York zurückkam, dominierte in der Kunstwelt der abstrakte Expressionismus, ihr geometrischer Stil passte nicht, sie war mit ihren großen, stillen, minimalistischen abstrakten Gemälden dem Minimalismus um zehn Jahre voraus. Sie wurde nicht ausgestellt; sie malte unbeirrt weiter und entwickelte ihren Arbeitsprozess (sie machte Dutzende von Zeichnungen für jedes einzelne Gemälde); sie arbeitete für sich, in der Verborgenheit, ignoriert. Im Nachhinein sieht sie es als einen Segen, denn sie musste nur ihrer eigenen ästhetischen Intuition und Vision folgen, sie wurde nicht gelobt, aber auch nicht kritisiert und abgewertet, sie musste sich niemandem anbiedern, sie musste nicht verkaufen, weil ihr Mann sie mit seinem Lehrergehalt ernährte. Sie war 61 Jahre lang mit ihm verheiratet, und sie hatten keine Kinder. Er unterstützte ihre Malerei und glaubte an sie, nur ihren Erfolg – obwohl er 98 Jahre alt wurde – erlebte er nicht mehr. Dieser Erfolg kam langsam, aber er kam nach sieben Jahrzehnten des Malens.
»Ich wartete 94 Jahre auf meinen Bus«, sagte Herrera eingedenk des Spruchs »Wenn du lang genug wartest, kommt auch dein Bus.« Der Bus war die Galerie Ikon in Birmingham, die ihr 2009 eine Retrospektive ausrichtete, die dann 2010 auch an das Museum Pfalzgalerie in Kaiserslautern ging. Ihr Bus waren zwei Sammlerinnen, von denen jede fünf Gemälde kaufte – Dank der Göttin, dass heute einige Frauen Geld haben.
Herrera genießt den Erfolg im hohen Alter, obwohl sie immer noch etwas staunt, dass ihre Bilder sich plötzlich verkaufen – »ich hatte noch nie so viel Geld« – und dass sie geehrt wird. Aber auch heute, obwohl im Rollstuhl und von Arthritis heimgesucht, arbeitet sie wie seit 70 Jahren jeden Tag mit Lineal und Bleistift und Klebeband an ihrem Arbeitstisch. Die Schönheit der geraden Linie hält sie an der Arbeit und am Leben.
Ich freue mich mit ihr über die Anerkennung und die Aufmerksamkeit, die sie so spät erfährt, vor allem über jedes Bild, das sie verkauft. Aber ich habe noch einige Fragen über die Konstruktion von Erfolg.
Als ich Herreras Bilder sah, fiel mir als erstes die Ähnlichkeit mit Ellsworth Kelly auf, den ich seit meiner Studienzeit in den 60er Jahren immer wieder in Gruppenausstellungen und Einzelshows sah. Seine starken Farben, nebeneinandergesetzt, Primärrot und Blau, das strahlende Gelb, das tiefe »Kelly-Grün«, Weiß, später die Diptychons und Triptychons, dann die Skulpturen. Kelly ist acht Jahre junger als Herrera und verbrachte die gleichen Jahre von 1948 bis 1954 wie sie in Paris. Er stellte wie sie 1950 und 1951 im Salon des Realités Nouvelles aus. Sah er ihre Arbeiten dort? In einem Interview sagte er, dass er sich der Präsenz Herreras in Paris nicht bewusst war (Miller, S. 39, Fussnote 31.) Sicher hatten die beiden MalerInnen eine ähnliche Sensibilität, sicher sahen sie ähnliche Ausstellungen, gingen in die gleichen Galerien; wie sich herausstellte – Herrera erinnert sich an ihn –, kannten sie sich sogar persönlich. Wer lernte von wem, wer wurde von wem beeinflusst, wer kopierte, wer imitierte? Nach Picassos Motto: »good artists copy, great artists steal«. Sei dem wie es sei, aber was auffällt ist, dass Kelly zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Paris die erste Einzelausstellung bei Betty Parson hatte: 1956. Danach folgten zahlreiche Ausstellungen und mit ihnen einhergehend Wahrnehmung, Rezensionen, Anerkennung, UND Verkauf. Seine Werke wurden immer teurer und bewegen sich jetzt bei mehreren Millionen für ein Bild. Herreras Bilder sind gerade sehr im Wert gestiegen und kosten einige hunderttausend Dollar, ein einziges Werk nähert sich der Million.
Ganz wie bei Josephine Nivison und Edward Hopper und vielen anderen Paaren, fangen zwei KünstlerInnen etwa auf der gleichen Ebene an – Herrera war Kelly in der Ausbildung wahrscheinlich um etwas voraus – haben ähnliche Einflüsse und Kunsterlebnisse, bewegen sich in der gleichen intellektullen Welt, arbeiten ähnlich, aber für den Mann wird Erfolg hergestellt, er macht Karriere, wird bekannt und berühmt, während die Frau ignoriert wird, unsichtbar wird, sich zurückzieht, untergeht.
Herrera ist durch einen Zufall nicht untergegangen, jemand erwähnte ihren Namen vor der richtigen Person, einem Sammler, der daraufhin ihre Arbeiten ansah, sie kaufte und dann verkaufte.
Herrera wird natürlich zum Anlass ihrer Ausstellungen, drei an der Zahl, gefragt, wie sie sich erklärt, dass sie ignoriert wurde, und sie hat ihre Meinung dazu: Sie erinnert sich an die Galeristin Rose Fried, die sie nicht ausstellte, »weil sie eine Frau war, und die Männer Familien zu ernähren hatten« und sie sah, dass »die Männer alles kontrollierten, nicht nur die Kunst«; dass sie »streetwise« waren, d.h. sich auskannten mit dem System, »sie kannten das Museumssystem, das Galeriensystem, das Sammlersystem«. Sie fand, sie hatte nicht die Persönlichkeit dazu und meinte wohl, dass sie sich nicht anbiederte und einschmeichelte bei den richtigen Leuten, sie war geradeheraus und sagte ihre Meinung, damals wie heute.
Was sie vielleicht nicht so klar wie Josephine Nivison sah (siehe Levin, 1998), war, wie das Männersystem funktioniert, wie die Männer sich gegenseitig unterstützen, wie sie sich Käufer, Preise, Wettbewerbe, Juroren, Kritiker, die selbstverständlich alle männlich sind, zuschieben. Das ist das Männernetzwerk, ohne das es nicht geht und wo nur höchst selten eine Frau zugelassen wird, wie Agnes Martin vielleicht und Louise Bourgeois und Georgia O'Keeffe, die aber dann – wie letztere – nicht beliebt ist. Die Männer bilden kleine Gruppen, the New York School, die »color field painters«, die Minimalisten, und unterstützen sich gegenseitig, fördern auch die jüngeren Männer, die ihre Anhänger werden. Es tut ihrem Status keinen Abbruch, dass andere Männer ähnlich arbeiten wie sie: Kelly, Newman, Youngerman, Reinhardt, Stella, im Gegenteil: es bestätigt sie. Die Frage, wer wen beeinflusst, erübrigt sich. Sie beflügeln sich gegenseitig. Frauen dagegen sind immer von anderen beeinflusst, von vielen anderen, wie Bachmann feststellte.
Die Künstlerin und Freundin von Herrera, Teresita Fernandez, sagte über sie: »…Und ich denke, dass einige der Innovationen in ihrem Werk notgedrungen einige ihrer Zeitgenossen beeinflusst haben. Woher wissen wir, dass Barnett Newman nicht von Carmen beeinflusst war?«
Und ich füge hinzu: Woher wissen wir, dass Ellsworth Kelly nicht von Herrera beeinflusst war? Dass er die multiplen Leinwände nicht zuerst bei ihr sah? Zur gleichen Zeit verwendeten sie ähnliche Methoden, hatten ähnliche innovative Ideen (siehe dazu auch Miller, S. 25).
Herrera selbst schreibt den größten Einfluss auf sie der japanischen Kunst zu, wegen der Reduzierung; sie sieht ihre Arbeiten als visuelle Äquivalenz von Haiku.
Warum aber kommt keine Unterstützung von den Freunden und von den Frauen? Warum unterstützte Barnett Newman, mit dem Herrera befreundet war, sie nicht? Warum bekam sie keine Hilfe von Newmans Frau Annelee, die Kunstlehrerin war? Sie waren ihre Freunde, und sie frühstückten jeden Sonntag zusammen. Es war eine Welt der Männer, die sich um Männer drehte und von Männern bestimmt wurde. Der Kunstbetrieb war durch und durch männlich; die Kritiker waren männlich, die Kuratoren waren männlich, die Juroren von Wettbewerben waren männlich. Selbst die wenigen Frauen waren männeridentifiziert, die Künstlerinnen mit ihren Ehemännern, die Galeristinnen mit ihren männlichen Künstlern, die den Rang ihrer Galerie erhöhten, von denen sie mehr profitierten, wenn sie sie ausstellten, als von einer Frau. Hätte es damals Sammlerinnen gegeben, sie hätten Kelly und Reinhardt und Newman gekauft.
Es brauchte die Frauenbewegung, die hinter diese Mechanismen sah und sie bewusst machte – und in der Tat waren Künstlerinnen, wie z.B. die Guerilla Girls (1985), unter den ersten Feministinnen, die sich zu Gruppen zusammentaten und bewusst Frauen unterstützten. Herrera war noch – wie Modersohn-Becker Jahrzehnte vor ihr – umgeben von Männern und holte sich bzw. bekam keine Unterstützung von Frauen. Vielleicht war Herrera zu behütet und beschützt von ihrem Mann, der ihr zwar Erfolg wünschte, aber sich nicht fragte, warum seine Frau nicht dazugehörte zu den erfolgreichen Künstlern und wie deren Erfolg hergestellt wurde. Vielleicht ist so der Erfolg von Bourgeois und O’Keeffe zu erklären: Sie waren mit Männern liiert, Bourgeois mit einem bekannten Kunsthistoriker und Kunstprofessor, O’Keeffe mit dem berühmten Photographen und Galeristen Alfred Stieglitz, die sich beide in der Kunstwelt auskannten, selbst dazugehörten, nicht konkurrierten (auch weil sie andere Gebiete vertraten) und professionelle, nicht nur psychische Unterstützung gaben, d.h. ihre Frauen in die richtigen Kreise und Kunstkontexte hievten und dafür sorgten, dass sie dazugehörten.
Als Herrera sich mit 24 der Kunst verschrieb, wusste sie, es würde ein hartes Leben werden. Sie wusste nicht, dass sie 89, 94, ja 101 werden musste, um endlich breite Anerkennung und den verdienten Erfolg zu haben. Allen Künstlerinnen ist zu raten, möglichst alt zu werden, mindestens 90, am besten aber über 100.
(Text von 2017)
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Carmen Herrera starb in New York NY am 12. Februar 2022. Sie wurde 106 Jahre alt.
Verfasserin: Senta Trömel-Plötz
Zitate
Nach Herreras erster Soloshow in England 2009 schrieb eine Kritikerin: “Carmen Herrera is the discovery of the year, no of the decade. How could we have missed these brilliant compositions?”
Links
Carmen Herrera - 13 Artworks, Bio & Shows on Artsy.
Online verfügbar unter https://www.artsy.net/artist/carmen-herrera, abgerufen am 08.03.2017.
Hattenstone, Simon: Carmen Herrera: ›Men controlled everything, not just art‹. The Guardian, 31.12. 2016.
Online verfügbar unter https://www.theguardian.com/artanddesign/2016/dec/31/carmen-herrera-men-controlled-everything-art, abgerufen am 08.03.2017.
Lisson Gallery: Artists | Carmen Herrera. Biografie und viele Bilder (einzelne Werke, Ausstellungsfotos).
Online verfügbar unter http://www.lissongallery.com/artists/carmen-herrera, abgerufen am 08.03.2017.
Lueken, Verena: Malerin Carmen Herrera: Die Freiheit der Ignoranz. F.A.Z., 04.09.2016.
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Literatur & Quellen
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Hasting, Julia; Schwabsky, Barry (2011): Vitamin P₂. New perspectives in painting. London. Phaidon. ISBN 071486160X. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
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