(Aracy Moebius de Carvalho Guimarães Rosa)
geboren am 5. Dezember 1908 in Rio Negro (Paraná), Brasilien
gestorben am 3. März 2011 in Sao Paulo, Brasilien
brasilianische Sekretärin, Fluchthelferin, Gerechte unter den Völkern
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
„Engel von Hamburg“ lautet der Ehrentitel Aracy de Carvalhos, der Fluchthelferin für ungezählte Jüdinnen und Juden während der nationalsozialistischen Diktatur. Und doch geriet diese außergewöhnliche Frau in Vergessenheit - wie so viele starke und verdienstvolle Frauen der Geschichte. Die menschliche Größe Aracy de Carvalhos, ihr Sinn für Gerechtigkeit, vor allem ihr über die eigene Gefährdung erhabener Mut gerieten erst wieder in die öffentliche Aufmerksamkeit, als sie von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem am 8. Juli 1982 mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wurde. Bis heute ist die Zahl der Jüdinnen und Juden, denen sie zur Flucht von Deutschland nach Brasilien verhalf, unklar, vermutlich waren es Hunderte. Siebenunddreißig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges erwachten Interesse und Hochachtung für ihre Geschichte und ihr Wirken. Interviews und Artikel über sie erschienen in allen brasilianischen Medien, lediglich Fernsehaufnahmen lehnte sie bis zu ihrem Lebensende ab. In Brasilien ist sie eine verehrte Persönlichkeit, ihr Name ist im kollektiven Gedächtnis des Landes verankert. In Deutschland wird 2022 eine vielbeachtete Dokumentation über sie ausgestrahlt, die endlich auch hier ihr ihre Verdienste würdigt.
Aracy Moebius de Carvalho Guimarães Rosa, so ihr vollständiger Name, war die einzige Tochter von Sidonie Moebius de Carvalho, einer gebürtigen Deutschen aus Sachsen, und Amadeu Anselmo de Carvalho, der als portugiesischer Einwanderer sein Glück in Brasilien gefunden hatte und als erfolgreicher Geschäftsmann seiner Familie ein Leben in Wohlstand und seiner Tochter eine behütete und unbeschwerte Kindheit bieten konnte. Aracy verlebte ihre Kindertage in der Hafenstadt Guajura, wohin die Familie nach dem Erwerb des dortigen Grandhotels von Sao Paulo aus umgesiedelt war.
1930 heiratete Aracy 22jährig den Deutschen Johann Eduard Ludwig Tess. Das Paar bekam einen Sohn, Eduardo, aber die Ehe scheiterte bereits nach wenigen Jahren. Aracy de Carvalho trennte sich von ihrem Mann, litt fortan als alleinerziehende Mutter unter den Vorurteilen und Verurteilungen ihrer konservativen Landsleute. Sie entschloss sich, Brasilien zu verlassen. „Ich brauchte Abstand von meinem Leben in Sao Paulo, wo ich aufgewachsen war und geheiratet hatte“, sagte sie später in einem Interview.
1934 bestieg sie mit ihrem Sohn ein Schiff nach Deutschland. Sie wollte in Europa ein neues Leben beginnen; in Hamburg fand sie Aufnahme bei ihrer ledigen Tante Lucy Luttmer. Aracy de Carvalho sprach fließend Deutsch, in den 1920er Jahren der Weimarer Republik hatte sie auf einer Reise das liberale Deutschland kennengelernt. Die dortigen „neuen Frauen“ zeigten sich selbstbewusst und selbstbestimmt – und die nach Unabhängigkeit strebende Aracy fühlte sich von den Chancen dieser neuen Lebensart angezogen.
Das einstige demokratische und offene Deutschland aber hatte sich in eine nationalistische, antisemitische Diktatur verwandelt, als Aracy in Hamburg eintraf. Aber ihr persönliches Interesse, endlich ein angenehmes Leben für sich und ihren Sohn aufzubauen, Arbeit zu finden und ihre Jugend zu genießen, sah sie durch das politische Regime noch nicht gefährdet.
Aracy de Carvalho ist 28 Jahre alt, als sie 1936 eine Arbeitsstelle im brasilianischen Konsulat in Hamburg findet. Nun kann sie sich eine eigene Wohnung leisten, den Sohn in einer deutschen Schule anmelden, sie hat Kontakte geknüpft, FreundInnen gefunden und genießt ihre Freiheit. Modische Aufmachung, elegantes Auftreten, Urlaubsreisen – ein selbstbestimmtes Leben in Unabhängigkeit ist es, was ihr als ihre Zukunft gewiss erscheint. Sie nimmt Fahrstunden, um eine eigenes Auto erwerben zu können - für sie das Symbol für Emanzipation und Autonomie. Ihre Mehrsprachigkeit – sie spricht Portugiesisch, Deutsch, Englisch und Französisch – verhilft ihr bald zur Position als Leiterin der Pass- und Visaabteilung des Konsulats. Hier wird sie die Ansprechpartnerin für alle, die nach Brasilien reisen oder dorthin auswandern wollen. Zu ihr kommen bald immer mehr Jüdinnen und Juden mit dem Antrag auf ein Visum für die Ausreise nach Brasilien.
1935 hatte Hitler die „Nürnberger Gesetze“ zum „Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ erlassen, eine weitere Eskalationsstufe des Antisemitismus und Vorbereitung für die Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Aracy de Carvalhos bisherige in politischer Hinsicht eher passive und unkritische Haltung verändert sich zunehmend. In ihrer täglichen Arbeit ist de Carvalho mit der Menschenverachtung der Nazis konfrontiert und muss, gewollt oder ungewollt, Stellung beziehen. Und sie entscheidet sich für ihr Gewissen, für Mitgefühl mit dem Leid der Betroffenen und für Hilfsbereitschaft. Sie selbst hatte ja in Brasilien nach der Trennung von ihrem Ehemann Diskriminierung und Degradierung erfahren. Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung sind ihre höchsten Werte, die unmenschliche Verfolgung unschuldiger Menschen entsetzt sie zutiefst.
Unter hohem persönlichen Risiko markiert sie von nun an Ausreisepapiere von jüdischen AntragstellerInnen nicht mehr mit dem Buchstaben „J“ für „Jude“ und ermöglicht damit verzweifelten Flüchtlingen die „legale“ Ausreise nach Brasilien. Sich selbst bringt sie dabei in doppelte Gefahr, denn mit ihrem Handeln verstößt sie auch gegen die Gesetze ihres Heimatlandes.
In Brasilien verfolgt der Diktator Getulio Vargas eine eindeutig nationalistische und antisemitische Politik. 1934 hatte er bereits ein Quotensystem in die Verfassung eingeführt, das die erlaubte Zahl von Immigranten deutlich beschränkte. Auch Aracy de Carvalho muss in ihrer Abteilung in Hamburg diese Verfügungen beachten. Aber sie entdeckt eine Gesetzeslücke: für Touristenvisa gelten die Regelungen des Quotensystems nicht, sie stempelt nun Ausreisevisa mit dem Wort „Tourist“ ab. Damit ist immerhin die Einreise nach Brasilien legalisiert, auch wenn ein weiterer Aufenthalt der Flüchtlinge in Brasilien noch nicht gesichert ist.
1938 verschärfen sich die Ausreisevorschriften sowohl in Deutschland als auch in Brasilien noch einmal. Die Nazis stempeln die Reisepässe von Jüdinnen und Juden jetzt mit einem roten „J“, und ohne gültigen Reisepass können selbst illegale Ausreisepapiere nicht mehr ausgestellt werden. Die Hilfsmaßnahmen in der bisherigen Form sind unmöglich geworden. Mittlerweile aber hatte Aracy de Cavalho auch mit RegimegegnerInnen in deutschen Behörden ein Netzwerk aufgebaut, das ihr gefälschte Pässe ohne das stigmatisierende „J“ zuspielt. Sie kann weiterhin Jüdinnen und Juden zur Ausreise verhelfen.
Zeitgleich aber werden die brasilianischen Einwanderungsbestimmungen für Jüdinnen und Juden noch rigoroser. Der sogenannte „Geheime Rundbrief Nr. 1.127“ tritt in Kraft, der allen Personen semitischer Herkunft die Einreise nach Brasilien verbietet. Aber auch davon lässt sich Aracy de Carvalho nicht einschüchtern, macht sich die ungenaue Ausdrucksweise des Begriffes „semitisch“ zunutze und ignoriert fortan den Rundbrief. „Letztendlich entschied jeder Mitarbeiter, wen er für einen Juden hielt und wen nicht. Und wessen Antrag bearbeitet wurde… „So hatten die Mitarbeiter des Konsulats „einen realen Handlungsspielraum, der einen Unterschied machen kann, und Aracy hat einen Unterschied gemacht.“ (arte-TV-Dokumentation, s.u. Quellennachweis).
Im Mai 1938 hatte bereits der junge Diplomat João Guimaraes Rosa (1908–1967) als neuer Vize-Konsul sein Amt im Hamburger Konsulat angetreten. Nach der Trennung von seiner Frau, mit der er zwei Töchter hatte, war es sein Wunsch gewesen, in Deutschland zu arbeiten. Er war ein Bewunderer der deutschen Kultur und Literaturgeschichte und betrachtete sie als Vorbild für seinen eigenen literarischen Ehrgeiz. Guimaraes Rosa wurde einer der bekanntesten Schriftsteller Brasiliens, das staatliche Kulturinstitut Brasiliens, das „Instituto Guimaraes Rosa“, ist nach ihm benannt.
Aracy de Carvalho und Rosa werden ein Paar, sie vertraut ihm ihr illegales Handeln an, und er unterstützt sie in ihrem mutigen Vorgehen. Sowohl die Pogrome des 9. November 1938 und deren Folgen als auch die zunehmende internationale restriktive Flüchtlingspolitik führen zu immer mehr Gesuchen verzweifelter Menschen in Aracy de Carvalhos Abteilung. Unter größter Gefahr entdeckt zu werden schmuggelt sie Ausreisevisa in die Unterschriftsmappe des Konsuls- ohne seine Untefschrift haben die Unterlagen keine Gültigkeit. In Wochen oder Monaten der Abwesenheit des Konsuls aber ist Vize-Konsul Rosa unterschriftsberechtigt, dann erhalten die Flüchtlinge sämtliche erforderlichen Ausreisepapiere und können alle Grenzen ungehindert passieren.
Noch während ihrer Zeit in Deutschland heiraten Aracy de Carvalho und Joao Guimaraes Rosa. Ihre Arbeit setzen sie bis 1942 fort, dann bricht Brasilien die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab und unterstützt die alliierten Kräfte bis zum Ende des 2. Weltkrieges. De Carvalho und Rosa werden vier Monate lang interniert, bis sie gegen deutsche Diplomaten ausgetauscht werden können. Sie lassen sich in Rio de Janeiro nieder, Rosa bleibt weiter tätig als Diplomat und Schriftsteller. 1956 widmet er sein größtes literarisches Werk „Grande Sertao: Vereda“ (Der große Sertao: Pfade) seiner Frau Aracy.
1967 stirbt Rosa an einem Herzinfarkt, Aracy de Carvalho heiratet nicht wieder. Im hohen Alter erkrankt sie an Alzheimer; ihre Wohnung in Rio muss sie verlassen und findet ein neues Zuhause bei ihrem Sohn Eduardo und dessen Familie in Sao Paulo. Aracy de Carvalho stirbt am 28. Februar 2011 in Sao Paulo im Alter von 102 Jahren. Sie wird neben ihrem Mann im Mausoleum der brasilianischen Akademie der Literaturwissenschaften („Academia Brasileira de Letras“) in Rio de Janeiro bestattet.
Die Universität von Sao Paulo bewahrt Notizen, Briefe und Dokumente, die Aracy de Carvalhos Vorgehen und Verdienste bezeugen. Sie selbst wollte nie eine Heldin sein, aber für die geretteten Menschen, für deren Familien und Nachfahren blieb und bleibt sie die Heldin von Hamburg.
(Text von 2025)
Zitate
Ich habe getan, was ich konnte.
Literatur & Quellen
Mônica Raisa Schpun: Justa. Aracy de Carvalho e o resgate de judeus. Trocando a Alemanha nazista pelo Brasil. Civilização Brasileira, Rio de Janeiro, 2. Aufl. 2011, ISBN 978-85-200-0991-8.
Dokumentation „Aracy: Der Engel von Hamburg“, 90 Minuten, Deutschland 2022, Regie Gabriele Rose, ausgestrahlt von arte am 8. Juni 2023
https://www.3sat.de/film/dokumentarfilmzeit/aracy—-der-engel-von-hamburg-100.html
Aracy - https://www.youtube.com/watch?v=SRQ1GX8wh4Q
https://www.igdj-hh.de/aktuelles/aktuelle-nachrichten/aracy-der-engel-von-hamburg
Katharina Zeckau zur arte-Doku über Aracy de Carvalho, in https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/arte-doku-ueber-eine-heldin-der-nazi-zeit/
https://gerontology.fandom.com/wiki/Aracy_de_Carvalho
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