(Anna Mathilde Kolb)
geboren am 3. Februar 1870 in München
gestorben am 3. Dezember 1967 in München
deutsche Schriftstellerin und Pazifistin
55. Todestag am 3. Dezember 2022
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Annette Kolbs Markenzeichen sind die verspielten, ja teilweise bizarren Hüte, die sie zeitlebens trägt, um ihr schütteres Haar zu verbergen. Diese neckische Marotte und ihr großbürgerliches, gelegentlich aber auch hilflos-naives Auftreten täuschen über den scharfsichtigen, unbeirrbaren Blick hinweg, mit dem sie das Zeitgeschehen beobachtet. In Zeiten des Hasses auf den »Erbfeind« versucht die Deutsch-Französin zu vermitteln – vergeblich. Zweimal – 1916 und 1933 – rettet sie sich ins Exil.
Annette Kolbs Mutter Sophie Danvin entstammt einer französischen Künstlerfamilie und ist eine begabte Pianistin. Ihr Vater Max arbeitet als Gartenarchitekt und Leiter des Botanischen Gartens in München und ist Gerüchten zufolge ein illegitimer Sohn König Maximilians II. Annette ist das drittjüngste von sechs Kindern, die das Säuglingsalter überleben. Sie besucht sechs Jahre lang eine Tiroler Klosterschule, in der sie unter der heuchlerischen Frömmelei und der unmenschlichen Härte und Abgestumpftheit der Nonnen leidet. Daraus entwickelt sich eine lebenslange antiklerikale Haltung, obgleich Annette Kolb überzeugte Katholikin ist. Schließlich nimmt ihre Mutter sie von der Schule und schickt sie auf ein Lehrinstitut in München. Noch in späteren Jahren bedauert Annette Kolb die Halbbildung, die sie aus ihrer Schulzeit mitgenommen hat.
Intime Kontakte zu Männern lehnt sie ab – Schwärmereien für Mitschülerinnen verarbeitet sie später literarisch. Im Salon ihrer Mutter lernt Annette Kolb zahlreiche Künstler, Bohèmiens und Diplomaten kennen, denen sie Einladungen in verschiedene europäische Länder verdankt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts reist sie unabhängig und ohne männliche Begleitung durch verschiedene Länder.
Ihr erstes Buch – eine Aufsatzsammlung, mit der sie sich zum Gespött des gesamten Bekanntenkreises macht – lässt Annette Kolb auf eigene Kosten drucken. Der Durchbruch als Schriftstellerin gelingt ihr erst 1912 mit dem Roman »Das Exemplar«. Ihr schriftstellerisches Werk umfasst Romane, Biographien (z.B. über Mozart, Schubert und Aristide Briand), Übersetzungen, Reisebeschreibungen und vor allem Artikel und Essays über die politische Situation Europas. Ihr bekanntestes Werk ist der autobiographisch gefärbte Roman »Die Schaukel« (1934).
Annette Kolb wird stark von ihrer deutsch-französischen Herkunft und den Auswirkungen des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 geprägt. Von klein auf hängen für sie Familienharmonie und Politik zusammen; »Völkerverständigung« ist keine Phrase, sondern Alltag. Bereits 1904 bemüht sie sich um Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich und betont, dass die gegenseitige Ablehnung nur auf Unkenntnis beruhe. Darüber hinaus müssten Pazifismus und Patriotismus keine Gegensätze sein. Einen Mitstreiter findet sie in dem elsässischen Schriftsteller René Schickele, mit dem sie bis zu seinem Tod befreundet bleibt.
Bei ihrer ersten pazifistischen Rede 1915 in Dresden wird sie niedergeschrien und die Versammlung geschlossen. Wegen ihrer »Briefe einer Deutsch-Französin« (1916) gilt sie in beiden Ländern als Vaterlandsverräterin. Vom bayerischen Geheimdienst wird sie überwacht und ihre Post ohne ihr Wissen kontrolliert. Schließlich werden ihr seitens des bayerischen Kriegsministeriums Kontakte ins Ausland und jegliche pazifistische Betätigung oder Veröffentlichung untersagt. 1916 emigriert sie mit der Hilfe Walther Rathenaus in die Schweiz, wo sie allerdings weiterhin überwacht wird. Moralisch und materiell unterstützen sie René Schickele und der französische Schriftsteller Romain Rolland. Wiederholt verhilft sie über ihre Bekanntschaft mit dem Diplomaten Harry Graf Kessler französischen Familien aus Elsass-Lothringen, denen die Abschiebung droht, zu Schweizer Pässen.
1922 lässt sich Annette Kolb in Badenweiler in Schickeles Nachbarschaft ein kleines Haus bauen. Zwischen 1919 und 1923 reist sie ständig in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz umher – privat und um in Lesungen und Vorträgen für Versöhnung und Pazifismus zu werben. Mit Sorge sieht sie die zunehmende geistige und materielle Verelendung und den weit verbreiteten Hass auf den »Erbfeind« Frankreich ebenso wie auf Jüdinnen und Juden.
Das Jahrzehnt zwischen 1922 und 1933 ist ihr produktivstes. Sie genießt Anerkennung bei Leserschaft, Kritikern und KollegInnen. Sie wird mit Thomas Mann, Hermann Hesse oder Stefan Zweig auf eine Stufe gestellt. In ihrem »Beschwerdebuch« (1932) verurteilt sie sowohl aktive Nazis als auch deren Mitläufer und Opportunisten. Nachdem Annette Kolb im Februar 1933 feststellen muss, dass sie von ihrer Zugehfrau bespitzelt wird, flieht sie mit kleinem Gepäck und einem Taxi über die nahe Schweizer Grenze in ihr zweites Exil. In der folgenden Zeit hält sie sich in der Schweiz, in Luxemburg und Frankreich auf. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris flieht sie auf nervenaufreibenden Umwegen nach Lissabon, wo sie sich 1941 nach New York einschifft.
In den USA hat sie keinen beruflichen Erfolg und lebt hauptsächlich von der Großzügigkeit anderer. Daher kehrt sie 1945 zunächst nach Paris zurück und 1961 endgültig nach München. Bis 1964 ist Annette Kolb noch schriftstellerisch tätig, ihre feuilletonistischen Bücher und Aufsätze entsprechen aber nicht mehr dem Zeitgeist. Politisch wird sie Anhängerin Konrad Adenauers. Wieder setzt sie sich für die deutsch-französische Aussöhnung ein, was diesmal auf Widerhall stößt. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wird sie mit zahllosen Ehrungen und Orden überhäuft, u.a. mit dem Bayerischen Verdienstorden, dem Großen Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland, der Mitgliedschaft in der französischen Ehrenlegion und dem Pour le mérite. Dass sie auf diese Weise für politische Zwecke instrumentalisiert wird, ist ihr bewusst.
Neugierig und unkonventionell ist sie bis an ihr Lebensende. Sie macht noch mit 62 Jahren den Führerschein, und ihre letzte Flugreise führt sie 97jährig nach Israel. 1965, als ihr neunzigster Geburtstag hochoffiziell gefeiert werden soll, bekennt sie, dass sie eigentlich schon 95 ist und seit einem halben Jahrhundert gefälschte Papiere besitzt. 1967 stirbt Annette Kolb in ihrer Wohnung in München-Bogenhausen.
(Text von 2015)
Verfasserin: Christine Schmidt
Zitate
… und als ich aufwuchs, da lag mir immer mehr am Herzen, daß die Franzosen und die Deutschen sich so liebten, wie ich die beiden zusammen liebte, denn ich habe zu beiden im gleichen Maße gehört.
(aus »Ein Selbstportrait«, undatiert)
Es ist mir nicht erinnerlich in der Folge mein Alter jemals richtig angegeben zu haben. Ich griff ad libitum in die Tasten, zu hoch oder zu tief, ganz einerlei, nach Laune und wie es mir gefiel. Nur stimmen durfte es nie, weder Ort, noch Tag, noch Jahr. Nur niemals die Wahrheit. Wozu? Wen geht sie etwas an?
(aus dem Manuskript »Gegen Geburtstage«, undatiert)
Die Deutschen – und das ist es, was einem oft an ihnen erbarmt – sind nicht imstande, sich im geringsten zu hegen.
(aus »Zarastro. Westliche Tage«, 1921)
… jene Meisterprobe männlicher Stupidität, als die wir den Weltkrieg bezeichnen müssen… […] Aber das sage ich doch gleich im voraus, damit sie’s wissen und für alle Fälle: Lieber »gekillt« oder »liquidiert«, als ohne Recht auf freie Meinungsäußerung zu leben. Kann es sein, daß unsere Mannesmänner anders denken und vorziehen, sich einstweilen faschistisch, später bolschewistisch umzustellen?
(aus »Beschwerdebuch«, 1932)
René, das entsetzliche III. Reich wird siegen auf der ganzen Linie, und die Concentrationslager werden gefüllt bleiben. Darüber bricht einem oft wie der Todesschweiß hervor.
(in einem Brief an René Schickele, 1933)
Meine Chance besteht in der Verachtung der Nazis für Frauengehirne.
(in einem Brief an René Schickele, 1934)
Wenn ich heute sage, »il y a des Nazis dans tous les pays« [Anm.: es gibt Nazis in allen Ländern], wer könnte mir da widersprechen? Aus verschiedenen psychologischen und politischen Gründen trägt Deutschland die schreckliche Verantwortung, diese Seuche über die Welt gebracht zu haben, aber an der Verantwortung für ihre wachsende Verbreitung haben alle teil. Müssen wir die Nazis nennen, die bereit sind, Hitler in Wien, Prag, Warschau, Oslo, Kopenhagen, Brüssel, Amsterdam, Luxemburg, Paris, Belgrad, Athen, Kreta und so weiter zu helfen? Können wir für einen Augenblick daran zweifeln, daß die englischen Nazis mit von der Partie wären, – gäbe es nicht Churchills feste Kontrolle. Und Amerika? Sie sind hier genauso eine Prozentfrage wie unsere anderen gefährlichen Verbrecher. Es ist die höchste Pflicht für jeden von uns, sie zu besiegen – unter äußerster Nichtachtung für die persönlichen Folgen. In einer Welt unter ihrer Herrschaft wäre es nicht wert zu leben.
(in einem Artikel für Klaus Manns Exilzeitschrift »Decision«, 1941)
Ihre Sprache ist ganz unverwechselbar. Wundernett sagt sie oder was machen die Amourschaften, oder Ich muß ihm eine politesse machen. Wenn sie sich ärgerte, verfiel sie – wie alle Franzosen – vom »Du« ins »Sie«. Wie herrlich sind ihre kleinen Diners: Es wird einen olympischen Strudel geben, wobei es ein Rätsel bleibt, wie sie sie finanziert. Denn natürlich ist sie nicht reich; sie ist keine Hortende, keine Sparsame. Das Geld weht sie an und weht auch wieder fort.
(Ursula von Kardorff über Annette Kolb in »Die Welt«, 1960)
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Links
Gedanken und Einfälle berühmter Frauen – Annette Kolb. Zusammengestellt von Eileen Simonow.
Online verfügbar unter http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/frauenarchiv/gedanken/kolb.html, zuletzt geprüft am 01.02.2020.
Deutsches Literaturarchiv Marbach: Sammlung Kolb, Annette.
Online verfügbar unter http://www.dla-marbach.de/cgi-bin/aDISCGI/kallias_prod/lib/adis.htm?ADISDB=PE&ADISOI=00024021, zuletzt geprüft am 01.02.2020.
Internet Movie Database: Die Schaukel (1983). Film nach dem Roman von Annette Kolb.
Online verfügbar unter http://www.imdb.com/title/tt0086252/, zuletzt geprüft am 01.02.2020.
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Kolb, Annette, 1870-1967.
Online verfügbar unter http://d-nb.info/gnd/118713698, zuletzt geprüft am 01.02.2020.
Reimann, Kerstin: Europäerinnen des Geistes und der Tat – Annette Kolb. Tabellarischer Lebenslauf mit Bildern.
Online verfügbar unter http://philfak.uni-duesseldorf.de/frauenarchiv/ausstellungen/europa/kolb/, zuletzt geprüft am 01.02.2020.
Literatur & Quellen
Quellen
Bauschinger, Sigrid (Hg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen. Annette Kolb 1870 - 1967. AusstellungskatalogMünchner Stadtbibliothek München. Diederichs. ISBN 3-424-01188-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Festner, Katharina; Raabe, Christiane (2008): Spaziergänge durch das München berühmter Frauen. Zürich , Hamburg. Arche-Literatur-Verlag. ISBN 978-3-7160-3604-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Such)
Hildebrandt, Irma (1999): Europäerin in München. Annette Kolb (1870–1967). . In: Hildebrandt, Irma: Bin halt ein zähes Luder. 15 Münchner Frauenporträts. 7. Aufl. München. Diederichs. ISBN 3-424-01035-9. S. 90–105. (Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1916): Briefe einer Deutsch-Französin. Berlin. Reiss. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1932): Beschwerdebuch. Köln, Berlin. Kiepenheuer & Witsch. 1953. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1964): 1907 – 1964. Zeitbilder. Frankfurt am Main. Fischer. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1995): Die Schaukel. Roman. Frankfurt am Main. S. Fischer. ISBN 3-10-040009-7. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Schwalm, Jürgen (2006): »Ich mußte es auf meine Weise sagen«. Annette Kolb – Leben und Werk. Bad Schwartau. Literarische Tradition in der WFB-Verlagsgruppe. (Literarische Tradition) ISBN 3-86672-019-X. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Strohmeyr, Armin (2002): Annette Kolb. Dichterin zwischen den Völkern. München. Deutscher Taschenbuchverlag. (dtv, 30868) ISBN 3-423-30868-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Weitere Werke
Kolb, Annette (1982): Das Exemplar. Roman. Frankfurt am Main. Fischer-Taschenbuch-Verlag. ISBN 3-596-22298-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1983): König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner. Frankfurt am Main. Fischer-Taschenbuch-Verlag. ISBN 3-596-22527-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1983): Wera Njedin. Erzählungen und Skizzen. Mit einem Nachwort von Hermann Kesten Frankfurt am Main. Fischer-Taschenbuch-Verl. ISBN 3-596-25734-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1984): Spitzbögen. Frankfurt am Main. Fischer. ISBN 3-596-25363-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1987): Franz Schubert. Sein Leben. Frankfurt am Main. Fischer-Taschenbuch-Verlag. ISBN 3-596-25736-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1997): Daphne Herbst. Roman. Frankfurt am Main. Suhrkamp. (Bibliothek Suhrkamp, 1245) ISBN 3-51822245-7. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (1997): Mozart. Frankfurt am Main. Fischer-Taschenbuch-Verlag. ISBN 3-596-25735-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (2002): Zarastro – Memento. Texte aus dem Exil. Mit einem Nachwort von Gabriele Förg München. Allitera. (Edition Monacensia) ISBN 3-935877-47-1. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette (2008): Die Schaukel. Roman. München. Süddeutsche Zeitung. (Süddeutsche Zeitung – Bibliothek, 4) ISBN 978-3-86615-629-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kolb, Annette; Schickele, René (1987): Briefe im Exil. 1933 – 1940. Herausgegeben von Hans Bender. Mainz. v. Hase & Koehler. ISBN 3-7758-1161-3. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Weiterführende Literatur
Werner, Charlotte Marlo (2000): Annette Kolb. Eine literarische Stimme Europas. Königstein/Taunus. Helmer. ISBN 3-89741-037-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
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