geboren am 3. Dezember 1903 in Erfurt
gestorben am 22. September 1989 in Wolfsburg
erste niedergelassene Kinderärztin in Wolfsburg
35. Todestag am 22. September 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Der Lebensweg, der Anneliese Just auferlegt war und den sie dann, mit der ihr eigenen Tatkraft, bestimmt hat, begann vielversprechend nach der Jahrhundertwende. Anneliese Just wurde 1903 als drittes von fünf Kindern in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie – die Mutter war Hausfrau, der Vater Lederfabrikant – in Erfurt geboren. Die Schulzeit, überschattet durch den Ersten Weltkrieg, verbrachte sie dort. Nach ihrem Abitur konnte sie studieren. Ihre Ausbildung schloss sie mit dem Examen als Gymnasiallehrerin ab.
Anneliese Just bekam 1924 eine Stelle als Hauslehrerin in der Familie des Leiters des Sanatoriums Jungborn am Nordrand des Harzes. 1930 heiratete sie den Doktor der Medizin Walter Just, den ältesten Bruder ihrer Schülerin, leitender Arzt der naturheilkundlich ausgerichteten Kuranstalt. Ihre drei Kinder wurden im Jungborn geboren. Am 11. Oktober 1936 kam ihr Ehemann bei einem tragischen Unfall auf einem Bahnübergang ums Leben. Sie selbst entging dabei dem Tode durch einen Sprung aus dem Auto. Die Schwiegereltern halfen nach Kräften und boten ihr sogar an, bis zu ihrem Lebensende für sie und die Kinder zu sorgen. Doch zwei Jahre nach dem Unglücksfall entschloss sich Anneliese Just trotz ihres Alters von 35 Jahren (!), Medizin zu studieren, um die Arbeit ihres Mannes in der Kuranstalt später fortsetzen zu können. Sie zog nach Göttingen, die Kinder konnten im März 1939 folgen. Sechs Monate später begann der Zweite Weltkrieg.
Anneliese Just konnte durch regelmäßige Fleißprüfungen gebührenfrei studieren. Ihren und ihrer Kinder bescheidenen Lebensunterhalt sicherte eine Lebensversicherung. 1943 bestand sie das medizinische Staatsexamen. Ihre Assistentinnenzeit absolvierte sie an den Universitätskliniken in Göttingen. Nach Kriegsende war klar, dass sie in das Sanatorium ihrer Schwiegereltern niemals mehr zurückkehren konnte, da es nun im Grenzstreifen jenseits der deutsch-deutschen Grenze lag. Sie blieb in Göttingen und erhielt einen Ausbildungsplatz an der Kinderklinik. 1949 erlangte sie die Anerkennung als Fachärztin für Kinderheilkunde. Nachdem sie ihre Stelle an der Kinderklinik an einen aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Kollegen abtreten musste, war sie gezwungen, sich nach einer Niederlassungsmöglichkeit umzusehen.
Nach vielen vergeblichen Bewerbungen wurde Anneliese Just im Herbst 1950 die Kassenzulassung für Wolfsburg erteilt. Die Suche nach Praxisräumen und Wohnung in Wolfsburg gestaltete sich schwierig, da der Wohnungsbau in den ärmlichen Nachkriegsjahren nur langsam anlief und die Stadt voll von Vertriebenen, Flüchtlingen und Kriegsheimkehrern war. Im Mai 1951 eröffnete sie im Obergeschoss der Mohren-Apotheke in der Rothenfelder Strasse ihre Praxis für Kinderheilkunde. Der Ausbau der ganzen Etage wäre zu teuer gewesen. Deshalb teilte sie sich die Räume mit dem Zahnarzt Dr. Heinrici. Es gelang zunächst nicht, eine Wohnung zu bekommen. Die 66 Quadratmeter großen Praxisräume mussten nachts und an den Wochenenden als Wohnung dienen. Ihre inzwischen erwachsenen Kinder waren tagsüber außer Haus. Dreieinhalb Jahre lang lebten Anneliese Just und ihre Kinder somit ohne private Wohnung. Dies war umso schwieriger, als auch eine kranke Schwester bei ihnen wohnte und betreut werden musste. Erst im Dezember 1954 konnte die Familie eine freifinanzierte Wohnung in der Porschestrasse beziehen.
Bei Praxiseröffnung 1951 gab es etwa dreißig Ärztinnen und Ärzte in Wolfsburg. Alle kannten sich persönlich und gingen freundschaftlich miteinander um. Bei problematischen Erkrankungen berieten sie sich kollegial. Der legendäre Onkel Willi (Dr. Wolf) rief oft an und sagte etwa: “Anneliese (er duzte grundsätzlich jede Person), mit Kind xy komme ich nicht zurecht, fahr doch mal hin!” – Ein anderes Mal hatte Dr. Weise mitten in der Nacht um einen Beratungsbesuch gebeten. Als sie danach miteinander das Haus des Patienten verließen, wurde der auf dem aufgebockten Motorroller eingeschlafene Sohn Jürgen, der seine Mutter gefahren hatte, durch schallendes Gelächter geweckt. Viel häufiger als heute wurden Hausbesuche angefordert, die Anneliese Just bei jedem Wetter und auch bei Nacht mit der kleinen NSU-Lambretta machte. Einmal stürzte sie bei vereister Straße und brach sich das Nasenbein. – 1953 konnte der erste gebrauchte Käfer gekauft werden.
Anneliese Just behandelte auch viele chronisch kranke und behinderte Kinder, denen ein Sonderstatus eingeräumt wurde. Sie brauchten nicht so lange zu warten und wurden zu Weihnachten oder zum Geburtstag von der “Tante Doktor” mit kleinen Geschenken bedacht. Zu diesen Patienten und ihren Familien entwickelte sich immer ein besonders enger Kontakt. Persönliche Kontakte waren ihr trotz immerwährender beruflicher Belastung wichtig.
Die Praxis in der Rothenfelder Straße wurde Ende 1954, als sie nicht mehr als Wohnung dienen musste, umgebaut und 1972 erweitert, obwohl Anneliese Just damals schon achtundsechzig Jahre alt war. Ende 1976 musste sie ihre Praxisräume infolge Kündigung aufgeben, konnte aber ihre Arbeit in der Kinderarzt-Praxis ihrer Schwiegertochter und ihres Sohnes in Detmerode fortführen.
Anlässlich ihres 75. Geburtstages im Dezember 1978 hat sie auf Drängen ihrer Kinder ihre kinderärztliche Tätigkeit aufgegeben, was ihr schwer fiel, obwohl sie seit 1938 kein Privatleben mehr gehabt hatte. Einzelne Hausbesuche führte sie weiterhin durch; und manchmal wurde in den Praxen der Wolfsburger Kinderärzte gefragt, wie es denn wohl der alten “Tante Doktor” gehe. In den sechziger und siebziger Jahren hatte sie viele Kinder der in Wolfsburg lebenden und arbeitenden italienischen und tunesischen Familien betreut. Noch Jahre später waren es gerade diese Menschen, die sich am Wohlergehen der alten Dame besonders interessiert zeigten und nachfragten.
Für ein über ihre intensive Praxistätigkeit hinausgehendes gesellschaftliches oder politisches Engagement reichte ihre Zeit nicht aus, zumal sie sich immer wieder um zwei chronisch kranke Schwestern kümmern musste. – Ihre Kinder halfen im Haushalt und Praxis im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Ihre Tochter ging später als Musikalienhändlerin nach Berlin, der jüngere Sohn leitet dort ein Architekturbüro.
Ihre Leidenschaft seit den frühen dreißiger Jahren bis zu ihren letzten Tagen war die Photographie. Menschen, Landschaften, Pflanzen, Tiere und Bauwerke waren ihre Motive. Sie liebte das Wandern und Reisen. Ihr erster gemeinsamer Campingurlaub mit den Kindern und dem gerade erworbenen Käfer ging 1954 nach Süddeutschland, dann mehrmals nach Skandinavien, später oft nach Sardinien. Seit 1966 lebte Anneliese Just in ihrer Eigentumswohnung in der Röntgenstraße. Später hatte sie die Gesellschaft ihrer älteren Schwester, Gertrud Henning, langjährige Lehrerin an der Porsche-Realschule, die im selben Haus eine Wohnung gefunden hatte. Mit ihren beiden Enkeln Karin und Martin hat sich Anneliese Just mit großer Liebe beschäftigt, beide sind auch Ärzte geworden.
Die längste Zeit ihres Lebens, nämlich fast vierzig Jahre, hat Anneliese Just in Wolfsburg gelebt und gearbeitet. Sie starb unerwartet im September 1989. Es war ihr leider nicht vergönnt, die Grenzöffnung und Wiedervereinigung noch zu erleben. In ihren letzten Jahren hat sie gemeinsam mit ihrem Sohn, der in der Redaktion der Zeitschrift “Kindergesundheit” mitgearbeitet hat, Korrektur gelesen. In filigraner Schönschrift brachte die hochbetagte Kinderärztin stilverbessernde Anmerkungen an, die immer akzeptiert wurden.
Professor Dr. med. Hellbrügge, Vater der Sozialpädiatrie und in Fachkreisen weltweit bekannt, würdigte Anneliese Justs Leistung anlässlich ihres achtzigsten Geburtstages in der Fachzeitschrift Der Kinderarzt (15. Jg. (1984) Nr. 1) mit den Worten: “Sie ist das typische Beispiel für die großartigsten Leistungen der deutschen Kinderheilkunde, die auch in Notzeiten, in den schweren Jahren nach dem Krieg, alles für die Kinder gab.”
Gern erinnern sich ihres engagierten Wirkens heute noch viele dankbare Patientinnen und Patienten.
(Nach einem Bericht ihres Sohnes Dr. Jürgen Just, Kinderarzt in Wolfsburg; überarbeitete Fassung)
Verfasserin: Hannelore Künne. Translation by Joey Horsley
Literatur & Quellen
aus: Frauen in Wolfsburg – Ein Blick in ihre Geschichte, 1998. Hrsg. Stadt Wolfsburg, Frauenbüro. ISBN 3-87327-031-5.
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