Biographien Anne (Annette) Beaumanoir
(Dr. Anne Beaumanoir, genannt Annette)
geboren am 30. Oktober 1923 in Le Guildo, Bretagne
gestorben am 4. März 2022 in Quimper, Bretagne
französische Ärztin (Neurologin), Widerstandskämpferin, antikolonialistische Aktivistin
100. Geburtstag am 30. Oktober 2023
Biografie
Der Widerspruchsgeist lag bei Anne (genannt Annette) Beaumanoir in der Familie. Bereits ihre Großmutter und ihre Eltern, sogenannte „einfache“ Leute aus einem kleinen bretonischen Fischerdorf, waren sozialistisch und antiklerikal eingestellt. Sie schickten die Tochter auf die staatliche, laizistische Grundschule (und nicht auf die katholische Privatschule), danach konnte sie in der Kleinstadt Dinan, wo ihre Eltern ein Café betrieben, das Gymnasium besuchen.
Im Sommer 1940 war Annette noch keine 17 Jahre alt, als die deutschen Truppen Dinan besetzten und in den beiden Kasernen der Stadt Gefangenenlager einrichteten. Von einem der Gefangenen im Vorbeigehen angesprochen, ob sie helfen wolle, begann sie mit Geheimaktivitäten für die französische Widerstandsbewegung – Pakete, deren Inhalt sie nicht kannte, an unbekannte Adressaten ausliefern, zunächst in Dinan, dann in Rennes, wo sie mit dem Medizinstudium begann, ab 1942 in Paris. Dort schloss sie sich einer kommunistischen Untergrundzelle an, klebte Plakate, verteilte Flugblätter, rief im Kino am Ende der Vorstellung die ZuschauerInnen zum Widerstand gegen die Besatzung auf – alles lebensgefährliche Aktionen. Sie war inzwischen Widerstandskämpferin „in Vollzeit“, lebte von der knappen finanziellen Unterstützung durch die kommunistische Partei. Ihr Verbindungsmann in Paris war „Roland“, eigentlich Rainer Juresthal, ein Jude deutscher Herkunft. Die beiden jungen Leute verliebten sich ineinander, versuchten, möglichst gemeinsam geheime Unterkünfte zu finden - ein schwerer Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften der Untergrundzelle und auch ansonsten riskant – Annette wurde schwanger und musste eine illegale Abtreibung durchstehen.
Als die beiden von einer bevorstehenden Gestapo-Razzia im 13. Arrondissement erfuhren, warnten sie eine fünfköpfige jüdische Familie, die sich dort versteckt hielt. Annette gelang es, die beiden halbwüchsigen Kinder zum Mitkommen zu bewegen, sie schleuste sie aus Paris heraus und brachte sie, ganz selbstverständlich, bei ihren Eltern in der Bretagne unter. Für die Rettung von Simone und Daniel Lisopravski erhielten die Beaumanoirs nach dem Krieg den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“, die Partei allerdings verurteilte die eigenmächtige Aktion. Annette wurde, getrennt von ihrem Geliebten, nach Lyon geschickt und als kommunistisches „U-Boot“ in einer gaullistischen Widerstandsorganisation eingesetzt. Erst viel später erfuhr sie, dass französische Milizionäre Rainer Juresthal ermordet hatten.
Zu Ende der deutschen Besatzung nahm sie – zunächst eher lustlos – ihr Studium wieder auf, heiratete einen Medizinerkollegen, Joseph Roger, auch er KP-Mitglied, arbeitete am Krankenhaus in Marseille, brachte zwei Söhne zur Welt. Bei Forschungsaufenthalten in Leipzig und Moskau erlebte sie den stalinistischen Personenkult und die Auswüchse des Überwachungsstaates – ein „Kafaeskes Universum“ - und distanzierte sich zunehmend von der kommunistischen Partei.
1954 begann, mit einer privaten Reise nach Algerien, ihre zweite Résistance. Entsetzt über die Verhältnisse in dieser französischen Siedlerkolonie – einer Million französischer bzw. europäischer StaatsbürgerInnen standen sieben Millionen Einheimische ohne staatsbürgerliche Rechte gegenüber - wollte sie nicht auf der „Seite der Unterdrücker“ stehen. Mit Zustimmung ihres Mannes gab sie ihre Stelle auf, schloss sich dem „Réseau Jeanson“ an, einem geheimen Netzwerk von UnterstützerInnen der algerischen Befreiungsbewegung (FLN), organisierte als sogenannte „Kofferträgerin“ illegale Geldtransporte, gefälschte Pässe, Unterkünfte und Transportwege für FLN-Aktivisten. 1959 wurde sie, vermutlich aufgrund eines Verrats, verhaftet. Von der Boulevardpresse als „Araberflittchen“ diffamiert, kam sie zunächst in Isolationshaft, wurde dann aber, da hochschwanger, in den Hausarrest entlassen. Nur wenige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Myriam floh sie über die Schweiz nach Tunis, drei Tage später wurde sie in Abwesenheit zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, so dass sie über viele Jahre nicht mehr nach Frankreich zurückkehren und ihre Kinder nur noch heimlich in den Ferien treffen konnte. In Tunis übernahm sie die Behandlung traumatisierter Algerienkämpfer als Nachfolgerin des berühmten Psychiaters und antikolonialistischen Theoretikers Frantz Fanon. Nach dem Ende des Algerienkrieges ging sie nach Algier und arbeitete bis zur Erschöpfung – 36 Monate mit 18stündigen Arbeitstagen - im Auftrag der Regierung Ben Bella am Wiederaufbau der völlig am Boden liegenden Gesundheitsversorgung. Ihr Traum von einem demokratischen, sozialistischen Algerien erstarb allerdings schnell – Korruption, Frauenunterdrückung, erste islamistische Tendenzen machten sich breit. Als die Regierung Ben Bella 1965 durch einen Militärputsch gestürzt wurde, floh sie erneut, dieses Mal nach Genf, wo sie die neurologische Abteilung der Universitätsklinik leitete. Erst nach ihrer Pensionierung kehrte sie nach Frankreich zurück, veröffentlichte 86jährig ihre Lebenserinnerungen, erzählte vor Schulklassen und bei Podiumsdiskussionen von ihren Widerstandserfahrungen – so lebhaft und mitreißend, dass die deutsch-französische Schriftstellerin Anne Weber sich „sofort in sie verliebte“ und ihr ein wunderbares Buch widmete: „Annette – ein Heldinnenepos“, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2020 – eine schöne Ehrung für die Autorin und zugleich für ihre inzwischen 100jährige „Heldin“.
(Text von 2022)
Anne Beaumanoir starb mit 98 Jahren am 4. März 2022 in Quimper, Bretagne.
Verfasserin: Andrea Schweers
Zitate
Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.
(Anne Weber über Annette Beaumanoir)
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