Biographien Anita Lasker-Wallfisch
(Anita Lasker [Geburtsname])
geboren am 17. Juli 1925 in Breslau (heute: Wrocław)
deutsch-britische Cellistin und eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters in Auschwitz
95. Geburtstag am 17. Juli 2020
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Dass sie nicht mit einem Sammeltransport ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht wurde und dort bei ihrer Ankunft eher zufällig erwähnte, dass sie Cello spielt, hat Anita Lasker, wie sie damals noch hieß, ihr Leben gerettet.
Sie war in einer bürgerlichen jüdischen Familie in Breslau als jüngste von drei Schwestern aufgewachsen. Alle drei hatten ganz selbstverständlich ein Musikinstrument erlernt, in ihrem harmonischen Zuhause wurde viel musiziert. Ihr Vater war Notar am Oberlandesgericht, die Mutter eine hochbegabte Geigerin; sie waren eine typische assimilierte jüdische Familie.
Die Verschlechterungen der Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung ab 1933 wurden von ihnen durchaus wahrgenommen, aber der Beruf des Vaters schien ein enormes Hindernis für eine Ausreise zu sein. Nur die älteste Schwester Marianne konnte Deutschland 1939 im letzten Moment verlassen. Sie hatte sich als gelernte Schreinerin einer zionistischen Werkleute-Gruppe angeschlossen und konnte nach England gehen, von wo aus sie weiter nach Palästina wollte, was ihr jedoch erst nach dem Krieg gelang.
Niemals hatte Anita Lasker Zweifel daran, dass sie Cellistin werden wollte. Als sie 13 Jahre alt war, gab es in Breslau keinen jüdischen Cellolehrer mehr und andere wagten nicht, sie zu unterrichten. So ging sie nach Berlin, um dort Privatstunden bei dem berühmten Cellisten Leo Rostal zu nehmen. Dieses Abenteuer brach sie 1939 nach der “Reichskristallnacht” ab, um zu ihrer Familie nach Breslau zurückzukehren.
Versuche, die beiden jüngeren Schwestern auch noch ausreisen zu lassen, misslangen immer wieder. Der Kriegsausbruch machte alle Hoffnungen zunichte, das tägliche Leben wurde immer schwieriger, und sie versuchten sich damit abzufinden, dass sie in Deutschland bleiben mussten.
Obwohl sie zwei Schuljahre verpasst hatte, gelang Anita dennoch der Anschluss an den Lernstoff der Jüdischen Schule; alles schien ihr besser als Nichtstun zu Hause, es war eine Art Zufluchtsort für sie. Beim Kulturbund Deutscher Juden konnte sie zum ersten Mal öffentlich spielen und Konzerte geben. Zusammen mit ihrer Schwester Renate musste sie in einer Papierfabrik arbeiten. Nachdem 1942 erst ihre Eltern deportiert worden waren und kurz danach auch noch ihre Großmutter, mit der sie bis dahin zusammen gelebt hatten, kamen die beiden Schwestern in ein Waisenhaus. Dort hatten sie Kontakt zu französischen Kriegsgefangenen. Diesen versuchten sie durch gefälschte Dokumente zur Flucht zu verhelfen. Auch für sich selber fälschten sie schließlich Papiere und wollten versuchen, in die unbesetzte Zone von Frankreich zu fliehen, wurden jedoch bereits vor der Abfahrt noch am Gleis von der Gestapo verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Da sie zusammenbleiben durften, konnten sie sich gegenseitig Mut machen. Sie hofften auf eine hohe Strafe, da sie dann länger im Gefängnis bleiben und sich so eine Einweisung in ein KZ zumindest verschieben würde. Bei dem Prozess wegen „Urkundenfälschung, Feindeshilfe und Fluchtversuch“ wurde Renate als Ältere zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, Anita zu achtzehn Monaten, zwei Freundinnen von ihnen wurde freigesprochen - also umgehend ins KZ gebracht.
„Angesichts dieser unvorstellbar schrecklichen Aussicht, wie irgendein Ungeziefer vernichtet zu werden, gelang es mir, mich irgendwie »außerhalb« der Wirklichkeit zu stellen. (…) Ich schuf Abstand zwischen mir und meinem »Feind«. Ich hypnotisierte mich selbst in einen Zustand, in dem ich mich unantastbar fühlte.“
Ende 1943 musste Anita Lasker unterschreiben, sie ginge „freiwillig“ nach Auschwitz. Da sie als „Karteihäftling“ in einem Gefängnistransport mit nur wenigen Häftlingen dorthin gebracht wurde, blieb ihr die dortige Selektion erspart - vielleicht musste sie ja noch als Zeugin vor Gericht aussagen. Als sie bei ihrer Ankunft eher zufällig ihr Cellospiel erwähnte, wurde ihr gleich gesagt, sie würtde gerettet. Zu dieser Zeit war Alma Rosé bereits Leiterin des dortigen Frauenorchesters. Sie sorgte dafür, dass Lasker vorspielen konnte, in das Orchester aufgenommen wurde, und sie war begeistert, mit ihr endlich ein Bassfundament im Orchester zu haben.
„So fing meine »Karriere« als die einzige Cellistin des Lager-Orchesters – oder richtiger: der »Kapelle« - an und zugleich mein Leben in dieser kleinen Gemeinschaft, in der rührende Kameradschaftlichkeit, bleibende Freundschaften und giftiger Haß in gleichem Maße nebeneinander gediehen.“
Im Unterschied zu den anderen KZ-Häftlingen hatte sie als Orchester-Mitglied ihre Identität nicht vollständig verloren, sie war „die Cellistin“, wodurch es ihr gelang, einen Funken menschlicher Würde zu bewahren. Anders als in den übrigen Blocks gab es im Orchester-Block sowohl Jüdinnen als auch „Arierinnen“, Bedingung war nur, dass sie ein Musikinstrument spielen oder sich z.B. als Notenschreiberinnen nützlich machen konnten. Die Hauptaufgabe des Orchesters bestand darin, jeden Morgen und jeden Abend am Haupteingang des Lagers für tausende Häftlinge zu spielen, die außerhalb des Lagers arbeiteten. Durch den Perfektionismus von Alma Rosé, den sie sich auch in dieser Situation bewahrt hatte, in der es an sich nahezu unmöglich war, ein funktionierendes Orchester zusammenzustellen, wurden die Frauen abgelenkt von dem, was um sie herum geschah, wobei ihnen durchaus bewusst war, dass sie im Schatten der rauchenden Schornsteine spielten. Außerdem mussten sie auf Befehl auch für die SS spielen. Bei einer solchen Gelegenheit musste Lasker z.B. einmal für den berüchtigten Lagerarzt Dr. Mengele die Träumerei von Schumann spielen.
„Ein Kammermusikabend in Auschwitz! Damit hoben wir uns im wahrsten Sinne des Wortes über das Inferno, in dem wir lebten, in Sphären hinaus, die nicht von den Erniedrigungen einer Existenz im Konzentrationslager berührt werden konnten.“
Innerhalb des Orchesters herrschte ein großer Zusammenhalt. Sich gegenseitig zu unterstützen, war von größter Wichtigkeit, so trugen alle ein wenig zum Überleben der anderen bei. Trotz allem waren sie eine zuverlässige Gemeinschaft, und fast alle sind nach dem Krieg in Kontakt miteinander geblieben.
Nach dem Tod von Alma Rosé fühlten sich die Frauen jedoch doppelt bedroht, denn für sie war sie das Orchester. Sie hatte zwar eine Nachfolgerin, die jedoch mit ihrem begrenzten Talent dazu beitrug, dass das Niveau sich innerhalb kurzer Zeit deutlich verschlechterte.
Als ihre Schwester Renate ebenfalls nach Auschwitz gebracht wurde, konnte Anita Lasker dafür sorgen, dass diese als Läuferin eingesetzt wurde und somit zumindest etwas bessere Lebensbedingungen hatte.
Sie hatten auch das Glück, zusammen bleiben zu können, als Ende 1944 angefangen wurde, die Häftlinge von Auschwitz nach Bergen-Belsen zu bringen. Auch die Frauen des Orchesters unterstützen sich weiterhin.
In Bergen-Belsen musste Anita Lasker in einer Weberei arbeiten. Durch die Todesmärsche kamen immer mehr Menschen, die das Lager nicht mehr fassen konnte, immer mehr Menschen starben, das Grauen war unvorstellbar. „Jeder Tag, den wir noch erlebten, schien uns wie ein Wunder.“
Am 4. April 1945 befreite die Britische Armee das Konzentrationslager Bergen-Belsen – nachdem die Häftlinge bereits seit sieben Tagen ohne Essen und ohne Wasser gewesen waren. Anita Lasker war eine derjenigen, die durch die BBC berichteten, was dort vor sich ging und versuchte, Kontakt zu ihrer Schwester Marianne aufzunehmen, was ihr auch gelang.
Nach der Befreiung wollte sie sich nützlich machen und arbeitete als Dolmetscherin, auch wenn sie anfangs kaum ein Wort Englisch sprach. Die anderen Frauen aus dem Orchester konnten auf Dauer in ihre Heimatländer zurück, während die beiden Schwestern Breslau, das zu dieser Zeit in russischer Hand war, nicht mehr als ihre Heimat ansehen konnten. Sie sahen sich als displaced persons und hatten nur ein Ziel: nach England zu ihrer Schwester zu kommen. Aber erst einmal wurden ihre Einreiseanträge abgelehnt.
Während dieser Wartezeit trat Anita Lasker als Zeugin beim Lüneburger Prozess gegen die Kommandeure und das Wachpersonal des Konzentrationslagers Bergen-Belsen auf, bei dem sie eine wichtige Rolle spielte. Auch wenn die Mehrzahl der Angeklagten dort zum Tode verurteilt wurden, „für uns, die wir Zeugen des gigantischen Massenmordes waren, ließ sich ein solch normales und ordentliches Gerichtsverfahren kaum begreifen.“
Erst nach einem Umweg über Belgien, wo sie wiederum monatelang warten mussten, gelangten die beiden Schwestern nach England. Dort konzentrierte sich Anita Lasker ganz auf die Musik. Sie heiratete den Pianisten Peter Wallfisch, den sie bereits aus Breslau kannte (er starb 1993). Sie haben zwei gemeinsame Kinder: Ihr Sohn Rafael ist ebenfalls Cellist, ihre Tochter Maya Jacobs-Wallfisch Psychotherapeutin.
Anita Lasker-Wallfisch gehört zu den Gründungsmitgliedern des weltberühmten English Chamber Orchestra, mit dem sie sowohl als Mitglied als auch als Solistin weltweit tourt.
Lange wollte Lasker-Wallfisch nicht nach Deutschland zurückkehren, erst 1994 machte sie diesen Schritt bei einem Auftritt mit dem English Chamber Orchestra. Inzwischen besucht sie das Land häufig und hat zahlreiche Vortragsreisen dorthin unternommen. Es ist ihr ein Anliegen geworden, in Deutschland vor allem an Schulen vom Nationalsozialismus und Holocaust zu berichten, um Brücken zu bauen und Jugendlichen „die Gehirne zu reinigen“, wie sie einmal in einem Interview mit dem Spiegel sagte (Der Spiegel 42/2007).
Anita Lasker-Wallfisch lebt in London, wo sie in den letzten Lebensjahren der tschechisch-israelischen Pianistin Alice Herz-Sommerhttps://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/alice-herz-sommer/, die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatte, zu deren Wahlfamilie gehörte.
Als die britische Königin Elisabeth II. im Juni 2015 das Konzentrationslager Bergen-Belsen besuchte, das 1945 von den Briten befreit wurde, war Anita Lasker-Wallfisch als eine der Überlebenden dieses Lagers als Gast eingeladen.
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
„Das „Orchester“, mit dem sie im Lager konfrontiert war, sollte man auch nicht „Das Mädchenorchester von Auschwitz“ nennen – Titel des Buches von Fania Fénelon. Natürlich waren wir vorwiegend jung, sonst wären wir nicht als „arbeitsfähig“ ins Lager hereingelassen worden. Zum Aussortieren hatte man ja die Gaskammern. Die Altersunterschiede waren jedoch relativ groß. Die Jüngsten waren Yvette, 15, und la grande Hélène, 16 Jahre alt, und die Ältesten waren so um die 40. Ein genaues Alter kann ich heute nicht mehr mit Sicherheit angeben. Jedenfalls war es kein „Schulorchester“.“ (Anita LAsker-Wallfisch im Vorwort von: Richard Newman mit Karen Kirtley: Alma Rosé: Wien 1906/Auschwitz 1944. Bonn 2003, Weidle Verlag)
„Als Zeuge der unbeschreiblichen Exzesse von Grausamkeit, die man heute HOLOCAUST nennt, ist man irgendwie automatisch isoliert. Man lebt in einer Art von Fegefeuer, und ich habe längst akzeptiert, daß es ganz einfach Menschen gibt, die »wissen«, und Menschen, die »nicht wissen«.
„Man kann es nennen, wie man will, Glaube oder Fatalismus: Ich wußte einfach, daß mich niemand anrührend würde, außer wenn eine »höhere Macht« es anders entschied.“
„Die Chance, das Ende des Krieges zu erleben, wenn man Häftling von Auschwitz, Belsen oder jedem anderen KZ war, war minimal. Wenn man dennoch überlebte und den Tag der Befreiung sah, hat man ganz einfach Glück gehabt. Man war ein Überlebender, mit all dem, was in diesem kleinen Wort enthalten ist.“ Aus: Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben
Links
http://www.hmd.org.uk/resources/stories/anita-lasker-wallfisch
Radiointerview mit Anita Lasker-Wallfisch
Fernsehinterviews mit Anita Lasker-Wallfisch:
http://www.bbc.com/news/world-europe-25922284
Literatur & Quellen
Auszeichnung: Médaille de la Reconnaissance Française
Literatur über Anita Lasker-Wallfisch:
Doerry, Martin: „Nirgendwo und überall zu Haus“: Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. München 2006. Deutsche Verlags-Anstalt
Lasker-Harpprecht, Renate. “Auschwitz erlaubt keine Rührung”. Interview mit Giovanni di Lorenzo. Die Zeit, Nr. 19 vom 30. April 2014, S. 11-14
Lasker-Wallfisch, Anita: Ihr sollt die Wahrheit erben. Breslau, Auschwitz, Bergen-Belsen. Mit einem Vorwort von Klaus Harpprecht. Bonn 1997, Weidle Verlag.
Newman, Richard mit Karen Kirtley: Alma Rosé: Wien 1906/Auschwitz 1944. Bonn 2003, Weidle Verlag
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