geboren am 30. Mai 1928 in Ixelles (Brüssel)
gestorben am 29. März 2019 in Paris
französische Filmregisseurin und Fotografin
5. Todestag am 29. März 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen • • • Bildquellen
Biografie
Agnès Varda war 26 Jahre alt und arbeitete als Theaterfotografin an Jean Vilars berühmtem Pariser Théâtre National Populaire. Vom Filmemachen hatte sie keine Ahnung, war erst wenige Male in ihrem Leben im Kino gewesen. Aber sie war fasziniert von der Idee, mit der Kamera ihre präzise komponierten fotografischen Aufnahmen zum Sprechen zu bringen. So gründete sie 1954 eine eigene Produktionsgesellschaft, Ciné Tamaris, und drehte mit geringen finanziellen Mitteln in einem Fischerviertel der südfranzösischen Stadt Sète ihren ersten Spielfilm. Zwei Handlungsstränge ließ sie dabei unverknüpft nebeneinander herlaufen: Auf der einen Seite die Beziehungskonflikte eines jungen, aus Paris angereisten Ehepaares – in einer merkwürdig distanzierten Weise von Silvia Monfort und dem jungen Philippe Noiret dargestellt –, auf der anderen Seite das von Alltagssorgen und Widerstand gegen die Gesundheitsinspektion geprägte harte Leben der Muschelfischer, gespielt von den Bewohnern des Dorfes in ihrer natürlichen Umgebung.
Alain Resnais erkannte die Besonderheit des Materials, übernahm gegen ein tägliches kostenloses Abendessen Schnitt und Montage und unterstützte die junge Kollegin auch beim Vertrieb – ganze zwei Wochen lief Agnès Vardas Debütfilm in einem Pariser Studiokino. Heute gilt La Pointe Courte als erster Beitrag der Nouvelle Vague, jener Welle neuartiger Filme junger Regisseure (Godard, Truffaut, Chabrol u.a.), die zu Beginn der 1960er Jahre – in Abgrenzung zum Hollywoodschen Erzählkino – den französischen Film revolutionierten. Agnès Varda war in dieser Aufbruchsbewegung »allein unter Männern«, lange blieben ihre Arbeiten ein Insidertipp.
Geboren als Tochter einer französischen Mutter und eines griechischen Vaters in Brüssel, verbrachte Agnès Varda ihre Kindheit in Belgien, die Jugend in Sète, wohin die Familie vor dem Krieg floh, ihre Studienjahre in Paris, wo sie Kunstgeschichte und Fotografie studierte. Seit ihrem Spielfilmdebüt drehte sie unaufhörlich – Kurzfilme für das französische Tourismusministerium, politische Dokumentationen (z. B. über Kuba, von wo sie 1962 mit 1800 Fotos zurückkehrte), Porträts, von Menschen, die ihr nahestanden (z. B. ihre Lieblingsschauspielerin Jane Birkin, später ihr Mann Jacques Demy), oder die sie durch ihre Lebensweise beeindruckten, wie jene, die von Abfällen der Wohlstandsgesellschaft leben (Die Sammler und die Sammlerin, 2000). In ihren »subjektiven Dokumentationen« entwickelte sie einen ganz eigenen Tonfall und Blick: Durch originelle Bildkombinationen und liebevoll-ironische Kommentare ist die Autorin immer präsent, kein Zeichen von Narzissmus, wie sie meint, sondern von »Ehrlichkeit«.
1958, kurz nach den Dreharbeiten an L’Opéra Mouffe, einem Porträt der Pariser Rue Mouffetard aus der Sicht einer Schwangeren, brachte Varda ihre Tochter Rosalie zur Welt, von deren Vater, Antoine Bourseiller, sie sich bereits getrennt hatte. Noch im selben Jahr begegnete sie Jacques Demy, einem jungen Regisseur aus dem Umfeld der Nouvelle Vague, der später vor allem mit Musicalfilmen bekannt wurde. 1962 heirateten die beiden, 1972 kam ihr gemeinsamer Sohn Mathieu zur Welt. Obwohl die Partnerschaft nicht immer einfach war (Demy war bisexuell und starb 1990, erst 59 Jahre alt, an Aids), bedeutete der Austausch mit ihrem Mann Varda viel – »nie hätte ich mit einem Apotheker mein Leben verbringen können, obwohl ich den Beruf sehr respektiere.«
Fünf Jahre nach La Pointe courte hatte Varda wieder die Mittel zusammen für einen Spielfilm: Cléo – Mittwoch von 5 bis 7 (1961) – zeigt nahezu in Echtzeit zwei Stunden im Leben einer schönen, verwöhnten Sängerin, die getrieben von der Angst vor dem Ergebnis einer Krebsuntersuchung durch Paris hetzt und sich dabei vom Objekt der Begierde männlicher Blicke zu einer selbstbewusst Sehenden entwickelt, ein frühes Beispiel für Vardas feministischen Standpunkt (»seit meinem 19. Lebensjahr war ich Feministin«), der sicher zu ihrer Außenseiterinnenposition im Rahmen des französischen Avantgardefilms beitrug.
In der Folgezeit wurde sie expliziter: Von einem dreijährigen Aufenthalt mit Jacques Demy in Los Angeles kam sie 1969 mit mehreren Kurzfilmen (u.a. über die Black Panthers und die Popkultur der 1960er Jahre) und den Ideen der amerikanischen Frauenbewegung zurück. 1971 unterschrieb sie das französische »Manifest der 343« für eine Freigabe der Abtreibung und verarbeitete den Kampf der Frauen in ihrem Spielfilm Die eine singt, die andere nicht (1976).
Einen großen Publikumserfolg hatte sie erst 1985 mit einer Art weiblichem Roadmovie: Mona, eine junge Obdachlose, bedrückend eindrucksvoll gespielt von der 17-jährigen Sandrine Bonnaire, wird zu Beginn des Films erfroren in einem Straßengraben aufgefunden. Der Film setzt das Bild dieser verstockten, wortkargen Außenseiterin aus den Berichten verschiedener Personen zusammen, die ihr in den letzten Lebenswochen begegneten – wie häufig bei Varda eine irritierende Mischung aus Dokumentation und Fiktion und zugleich eine eindringliche Darstellung der Lebenswelt obdachloser Menschen. Für Vogelfrei (Sans toit, ni loi) erhielt sie den Goldenen Löwen in Venedig und Bonnaire den César in Cannes für ihre Hauptrolle. Über eine Million französische ZuschauerInnen sahen den Film in seinem ersten Jahr.
Nach einem Gesamtwerk von über 40 Spiel- und Dokumentarfilmen (die zum Teil heute wieder auf DVD zugänglich sind) hat Varda in den letzten Jahren mit Foto- und Videoinstallationen experimentiert und vielfach Bilanz gezogen: In ihrem filmischen Selbstporträt Die Strände von Agnes (2008) und der fünfteiligen Arteserie Agnes war da (2012) zeigte sie Landschaften, Menschen, Kunstwerke, die sie geprägt haben und die sie liebt. Und dazwischen sich selbst, eine kleine, bunt gekleidete, quicklebendige Frau von 85 Jahren auf der Suche nach dem, was sie »Cinécriture« nennt – das »Schreiben« mit der Kamera.
Agnès Varda starb mit 90 Jahren am 29. März 2019 in Paris.
Verfasserin: Andrea Schweers
Zitate
Ich bin eine geborene Außenseiterin…. Und bei dem, was ich tat, war ich meistens allein. (Agnès Varda)
In meinem Alter gibt es zwei Haltungen: Entweder man wartet in aller Ruhe auf das Ende oder aber man beeilt sich, weil man noch viel unternehmen will. Für mich trifft Letzteres zu. Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. (Agnès Varda im Interview, Dez. 2011)
Es gab viele wichtige Ereignisse, ich habe mich zur rechten Zeit am rechten Ort befunden, war mittendrin in der Revolution und den Errungenschaften des Feminismus. Auch wenn nicht alles erreicht wurde, gibt es trotzdem wichtige Veränderungen, besonders die Geburtenkontrolle, die eine gigantische wissenschaftliche Erfindung darstellt. Ich habe für mich beschlossen, dass dies genauso wichtig ist wie Gutenberg, der den Buchdruck erfunden hat. (Agnès Varda im Interview, 23.09.2009, Quelle)
Links
Ciné-Tamaris - Le site officiel des films d'Agnès Varda et de Jacques Demy.
Online verfügbar unter http://www.cine-tamaris.com/, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Le Blog d'Agnès Varda. Nur kurzzeitig aktiv gewesen (Dez. 2008).
Online verfügbar unter http://agnesvarda.blogspot.de/, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
AllMovie: Agnès Varda movies, photos, movie reviews, filmography, and biography.
Online verfügbar unter http://www.allmovie.com/artist/agn%C3%A8s-varda-p115169, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
critic.de (2009): Der Zufall ist mein Regieassistent. Agnès Varda über ihr Gedanken-Zapping, ihre Liebe zur Poesie und den großen Einfluss der Surrealisten auf ihr Werk. Interview, 26.11.2009.
Online verfügbar unter http://www.critic.de/interview/der-zufall-ist-mein-regieassistent-2865/, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Internet Movie Database: Agnès Varda. Filme.
Online verfügbar unter http://www.imdb.de/name/nm0889513/, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Vartanian, A. (2009): Interview mit Agnès Varda. AVIVA-Berlin, 23.09.2009. Aus dem Französischen von Katharina Meier.
Online verfügbar unter https://www.aviva-berlin.de/aviva/content_Interviews.php?id=1425474, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Literatur & Quellen
Quellen
Jackson, Emma (2010): The eyes of Agnès Varda: Portraiture, cinécriture and the filmic ethnographic eye. In: Feminist Review, No. 96. S. p. 122-126.
Lee, Nam (2008): Rethinking feminist cinema: Agnès Varda and filmmaking in the feminine. Dissertation Faculty of the Graduate School University of Southern California.
Quart, Barbara (1986): A Conversation. In: Film Quarterly, Vol 40, No. 2 (Winter, 1986-1987), pp. 3-10. University of California Press.
Smith, Alison (1998): Agnès Varda. 1. Aufl. Manchester. Manchester Univ. Press. (French film directors) ISBN 0-7190-5061-8. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Weiterführende Literatur
Nennstiel, Anne (2010): Das Glück im Spielfilm: ›Le Bonheur‹ von Agnès Varda. 1. Aufl. s.l. GRIN Verlag. ISBN 978-3-640-69437-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Ofner, Astrid (2006): Demy/Varda. Eine Retrospektive der Viennale und des Österreichischen Filmmuseums. 1. Aufl. Marburg. Schüren. (Eine Publikation der Viennale) ISBN 978-3-89472-433-7. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Schwärzler, Dietmar (Hg.) (2004): Heterosexuality is the Opium of the Masses. Eine filmhistorische Recherche nach der kleinen Form. Wien. Sonderzahl. (Fanzine Rohstoff, 1) ISBN 3-85449-227-8. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Vallès-Bled, Maïthé (Hg.) (2011): Agnès Varda, y'a pas que la mer. Musée Paul Valéry Sète. Ausstellungskatalog. Salles-La-Source. Ed. Au Fil du Temps. ISBN 2-918298-13-1. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Bildquellen
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