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(Antonia Susan Byatt, geb. Drabble)
geboren am 24. August 1936 in Sheffield
britische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Sie ist die Gelehrte unter den britischen Schriftsteller:nnen der Gegenwart, und ihre Romane sind immer auch Beweis ihrer weitläufigen Kenntnisse etwa der zeitgenössischen Rechtsprechung, der Geschichte des Fabianismus oder der Schreibweise viktorianischer Versepen. Als Antonia Susan Drabble 1936 im nordenglischen Sheffield geboren wurde, musste sich eine Frau noch entscheiden: entweder Beruf oder Heirat, entweder denken oder fühlen, entweder persönliche Entfaltung oder bürgerliche Sicherheit. Drabbles Mutter, wiewohl Cambridge-Absolventin, hatte Ehe und Mutterschaft gewählt und ihr Ungenügen an dieser Lebensform ein Leben lang lautstark bekundet.
Ihre Tochter, die ebenfalls in Cambridge studiert hatte, danach in den USA am Bryn-Mawr-College und schließlich am Somerville-College der Universität Oxford, war fest entschlossen, es besser zu machen. Die liberalen Sechzigerjahre boten ihr dazu Möglichkeiten, die sie beherzt ergriff. Sie heiratete Sir Ian Charles Rainer Byatt, brachte kurz nacheinander zwei Kinder zur Welt - und setzte ihre wissenschaftliche Laufbahn fort. Später berichtete sie, sie habe am Schreibtisch oftmals mit der linken Hand ein Baby geschaukelt und mit der rechten geschrieben.
Am Beispiel ihrer Protagonistin Frederica Potter hat Byatt in vier halb-autobiografischen Romanen (1978-2002) geschildert, welche Hindernisse sich einer begabten jungen Frau entgegenstellen, die ihr Leben auch an den eigenen Wünschen ausrichten will. Das beginnt mit dem dominanten Vater und ist mit der Erfahrung körperlicher Gewalt in der Ehe nicht zu Ende. Nach ihrer nächtlichen Flucht von dem Landsitz ihres Ehemannes muss sich Frederica in einem Gerichtsprozess gegen die Anschuldigung verteidigen, sie könne sich als alleinerziehende Mutter um das eigene Kind nicht angemessen kümmern. Und inmitten solcher Turbulenzen kümmert sie sich sehr wohl um ihr Kind, unterrichtet an zwei Colleges, schreibt für einen Literaturverlag geistreiche Gutachten und moderiert später eine Kultursendung im Fernsehen. So viel Exzellenz muss die vielleicht nicht ganz so begabte Leserin erst einmal aushalten können.
A.S. Byatt wurde 1969 geschieden und heiratete im selben Jahr ihren neuen Partner Peter Duffy. Zwei weitere Kinder kamen zur Welt. Ihre Stelle am University College London gab Byatt 1983 auf, um mehr Zeit für ihr literarisches Schreiben zu haben. Die Liste ihrer wissenschaftlichen und literarischen Veröffentlichungen ist beeindruckend lang und vielfältig. Dennoch war sie viele Jahre lang nur einem überschaubaren Kreis von Leser:nnen bekannt.
Das änderte sich 1990 mit der Veröffentlichung ihres Romans „Besessen“, der Literaturkritik und Publikum gleichermaßen begeisterte und den Booker-Preis gewann, die höchste literarische Auszeichnung Großbritanniens. In einer Tour de force durch unterschiedliche Gattungen und Stile erzählt dieser postmoderne Roman die Liebesgeschichte zweier junger Literaturwissenschaftler:nnen, Maud Bailey und Roland Michel, die auf der Suche nach Spuren einer bisher unbekannten Liebschaft zwischen zwei viktorianischen Schriftsteller:nnen, Christabel LaMotte und Thomas Henry Ash, einander näher kommen.
Mit der Viktorianerin Christabel Lamotte und der modernen Maud Bailey zeigt Byatt dabei zwei Frauen, die auf je eigene Weise unter dem Leben im Patriarchat leiden. Während Christabel nach ihrer Liebschaft mit dem verheiraten Ash ihr Kind weggeben muss, fällt Maud zu ihrer ehemaligen Affäre mit dem Kollegen Fergus Wolf vor allem das Bild des ‚gemarterten Betts‘ ein. Erst in der gemeinsamen Detektivarbeit mit dem schüchternen Roland erlebt Maud, wie liebevolle Gefühle das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern suspendieren.
Byatt zweiter großer Roman „Das Buch der Kinder“ (2009) ist im Milieu der englischen Lebensreform-Bewegung angesiedelt, die den alternativen Kulturen der 1970er Jahre ähnelt. Im ländlichen Kent leben Anfang der 1890er Jahre mehrere befreundete Familien, Fabier:nnen, deren Kreis bis in die anarchistische Bewegung hineinreicht. Sie restaurieren alte Häuser, sie töpfern, schreiben und spielen Theater, und sie nehmen es mit der ehelichen Treue nicht so genau. Ihre Kinder werden im Geist des Reformpädagogik erzogen, selbstbestimmt und im Kontakt mit der Natur sollen sie leben und lernen.
Aber auch das alternative Leben hat seine blinden Flecken: Die freie Liebe lässt ledige Mütter und verwirrte Kinder zurück. Literatur und Kunst entstehen vielfach auf Kosten von Söhnen und Töchtern, die als Modelle herhalten müssen und aus dem Labyrinth der mütterlichen oder väterlichen Fantasien nicht wieder herausfinden. Eine Atmosphäre sexueller Zudringlichkeit durchzieht den Roman. Andererseits gelingt es vielen Kindern, die neuen Freiheiten für eigene Zukunftspläne zu nutzen und sich dabei über Konventionen und Klassenschranken hinwegzusetzen.
Doch dann gehen alle Wünsche und Pläne der Heranwachsenden in den Schlachten des Ersten Weltkriegs unter. Lakonisch beschreibt der Roman das Sterben der Söhne in den Schützengräben und die Ohnmacht der Töchter in den Lazaretten. Die Zukunftshoffnungen der viktorianischen Reformer sind ebenso wie die ihrer traditionelleren Zeitgenoss:nnen am Lauf der großen Geschichte gescheitert. Die Überlebenden treffen sich im Wohnzimmer der bürgerlichen Verwandten wieder. Auch diese haben eine Klassenschranke überwunden und die nicht standesgemäße Ehefrau ihres vermeintlich gefallenen Sohnes in die Familie aufgenommen.
Unter den kürzeren Formen, die Byatt in den vergangenen Jahren bevorzugt hat, fällt vor allem ihre viel gelobte Neu-Erzählung der altnordischen Sage „Ragnarök“ (2011) auf, eine Hommage an eine wichtige Lektüre ihrer Kindheit, die ihr (so erinnert sie sich) dabei half, mit ihren Ängsten und inneren Spannungen während des Zweiten Weltkriegs umzugehen. Hier tauchen sie wieder auf: die unzufriedene Mutter, die patriarchalen Zwänge. Der Wunsch, beide Einflüsse zu überwinden, hat das Leben und Schreiben A. S. Byatts angetrieben.
A. S. Byatt ist die ältere Schwester von Margaret Drabble (*1939), ebenfalls Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin.
Verfasserin: Renate Kraft
Das Geheimnis der Melusine: Überlegungen zu A.S. Byatts Roman "Besessen" - von Renate Kraft
Literatur & Quellen
Die Frederica-Potter-Romane
- The Virgin in the Garden, London 1978
dt. Die Jungfrau im Garten, übers. v. Christa E. Seibicke, Frankfurt/M. 1998
- Still Life, London 1985
dt. Stilleben, übers. v. Susanne Röckel u. Melanie Walz, Frankfurt/M. 2000
- Babel Tower, London 1996
dt. Der Turm zu Babel, übers. v. Brigitte Heinrich, Frankfurt/M. 2004
- A whistling Woman, London 2002
dt. Frauen, die pfeifen, übers. v. Brigitte Heinrich, Frankfurt/M. 2006
- Possession. A Romance, London 1990
dt. Besessen, übers. v. Melanie Walz, Frankfurt/M. 1993
- The Children‘s Book, London 2009
dt. Das Buch der Kinder, übers. v. Melanie Walz, Frankfurt/M. 2011
- Ragnarok: The End of the Gods, Edinburgh 2011
dt. Ragnarök: Das Schicksal der Götter, übers. v. Susanne Röckel, Berlin 2012
- Clark, Alex: Her dark materials, The Guardian 9 May 2009
- Lehmann-Haupt, Christopher: When was there such a thing as Romantic Love, The New York
Times, 25 October 1990
- Leith, Sam: Writing in terms of pleasure, The Guardian 25 April 2009
- Noakes, Jonathan: Interview with A.S. Byatt, in: Reynolds, Margaret and Noakes, Jonathan:
A.S. Byatt. The Essential Guide, London 2003, S. 11-32
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