Die Sprache der Eroberinnen: Ganz neue Erkenntnisse zur deutschen Sprachgeschichte
Am vergangenen Wochenende war ich auf Vortragsreise und verbrachte deshalb sieben Stunden im Zug. Die lange Fahrzeit verkürzte ich mir mit einem sehr anregenden und vergnüglichen Buch: Kristin Kopfs „Das kleine Etymologicum: Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Sprache“, soeben erschienen bei Klett-Cotta zum Preis von 19.95 EUR.
„Kristin Kopf, geboren 1984“, verrät uns der Klappentext, „forscht und lehrt an der Universität Mainz im Bereich historische Sprachwissenschaft.“
Ach Mainz — dort musste ich im Januar 1972 die Hauptprüfung für mein Rigorosum bei Professor Broder Carstensen (Anglistik) überstehen. Sie verlief gnädig, Carstensens Assistentin, Marlis Hellinger, war mir eine freundliche Stütze. Hellinger, eine Pionierin der feministischen Linguistik, wurde bald darauf Professorin und dann Dekanin der Philosophischen Fakultät der Uni Hannover. In dieser Funktion versuchte sie einen neuen Briefkopf für ihr offizielles Briefpapier durchzusetzen. Sie fand, dort sollte statt „Der Dekan der philosophischen Fakultät“ doch besser „Die Dekanin …“ stehen. Die Bitte wurde mit der Begründung abgewiesen, es handle sich bei „Dekan“ um eine Organbezeichnung. Haben wir gelacht über dieses wichtige Organ! Wir nannten es in der Folge nur noch "der Dekan".
Ihr Doktorvater, eben Broder Carstensen, hatte ihr zuvor schon mitgeteilt, er werde sie weiterhin mit „Fräulein“ anreden - Professorin und Dekanin hin oder her, wie er sie anrede, das entscheide immer noch er!
Was lese ich nun zu der Anrede „Fräulein“ bei Kristin Kopf: „Bis vor wenigen Jahrzehnten war das deutsche Anredesystem von einer skurrilen Asymmetrie geprägt. Männer wurden immer als Herr angesprochen, bei Frauen aber unterschied man zwischen dem unverheirateten Fräulein und der verheirateten Frau. … Heute ist der Bedeutungswandel abgeschlossen, und das Wort [Fräulein] findet fast nur noch scherzhafte Verwendung.“ (S. 206)
Cool! „Skurril“, „scherzhafte Verwendung“ sind wahrhaftig die passenden Ausdrücke für diesen Problembereich, aber unser guter Doktorvater hatte für solche Erkenntnisse so gar kein Organ…
„Sie ist Mitbetreiberin von [url=http://www.sprachlog.de]http://www.sprachlog.de[/url], dem erfolgreichsten deutschen Sprachblog….“, lese ich weiter über Kristin Kopf.
Den Sprachlog habe ich seit einigen Monaten abonniert und kann ihn wärmstens empfehlen. Durch ihn erfuhr ich schon im Frühsommer vom baldigen Erscheinen des Buchs und habe es gleich in meiner Buchhandlung vorbestellt, weil mir Kopfs Beiträge im Blog, kenntnisreich und mit Charme serviert, gut gefielen.
„Geboren 1984“ - Kristin Kopf erschien also im selben Jahr wie mein Buch „Das Deutsche als Männersprache“, und es hat mich sehr gefreut festzustellen, wie souverän Kopf heute mit der deutschen Männersprache kurzen Prozess macht.
Zwar vermisste ich in dem Buch die neusten Erkenntnisse zur Geschichte der Movierung (Ableitung femininer Personenbezeichnungen aus Maskulina) im Deutschen, das kommt vielleicht in einem zweiten Band. Dafür hat aber die Autorin sich eine originelle Lösung ausgedacht, wie der sprachlichen Unsichtbarkeit der Frauen praktisch abzuhelfen sei. Diese Lösung machte für mich die Lektüre ihres Buchs zu einem besonderen Vergnügen. Kopf kündigt sie gleich auf S. 11 folgendermaßen an:
Bei generischer Verwendung von Personenbezeichnungen (wenn keine konkreten Individuen gemeint sind) wird in diesem Buch die weibliche oder die männliche Form gebraucht. Die Zuweisung erfolgt per Zufall, über eine randomisierte Liste. Gemeint sind aber immer alle Menschen, egal, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen (oder ob sie das überhaupt tun). Auch die Fälle, in denen unklar war, ob beide Geschlechter gemeint sind, wurden großzügig den generischen Bezeichnungen zugeschlagen. Sie werden im folgenden also auf Vorfahrinnen, Griechinnen, Lexikografinnen… stoßen, die alle Nicht-Frauen mitmeinen und auf Ahnen, Goten und Sprachwissenschaftler, die die Nicht-Männer einschließen.
Ich grüble noch, welches Genus Kristin Kopf für ihre Neuschöpfungen Nicht-Frau und Nicht-Mann vorgesehen haben mag (der Nicht-Frau oder die Nicht-Frau??).
Während wir uns also von Kopfs klugen und leicht verständlichen Erläuterungen auch sehr komplexer sprachgeschichtlicher und grammatischer Sachverhalte fesseln und fortbilden lassen, überrascht sie uns immer wieder mit gänzlich ungewohnten Mitteilungen über Frauen und mitgemeinte Nicht-Frauen wie diese:
Zur Zeit der Völkerwanderung … siedelten germanische Völker im Römischen Reich. Im späteren Italien waren das die Langobardinnen, … in Südengland die Angeln und die Sächsinnen, … und in der Gegend um Worms ließen sich die Burgunderinnen nieder … (S. 99) Die Vandalinnen zogen weiter, die Fränkinnen blieben und drückten dem Land … seinen späteren Namen auf: Frankreich … (S. 99f) … Die Langobardinnen gaben ihre Sprache zunehmend zugunsten des Italienischen auf. (S.177) Im Deutschen bezeichnet Guerilla heute einzelne Partisaninnen oder Partisanengruppen. (S.186) Allerdings sprechen nicht alle Inderinnen Hindi… (S. 231) Die Keltinnen kennen wir aus Geschichtsbüchern oder Asterixbänden … (S. 233) (Anmerkung: Nein: Aus Geschichtsbüchern oder Asterixbänden kennen wir natürlich nur die Kelten. Umso schöner, den Keltinnen hier endlich auch mal zu begegnen.) Schließlich kamen die Römerinnen mit ihrer Expansionspolitik. (S. 234) Die keltischen Dialekte … kamen in engen Kontakt mit der Sprache der Eroberinnen. (S. 235) Von Beginn an sprachen es [das Afrikaans] nicht nur die europäischen Kolonialistinnen … (S. 237)
Zum Schluß sei noch der trockene Humor der Autorin gewürdigt, der das ganze Buch durchwärmt und der für linguistische Prosa nicht eben typisch ist. Eine Kostprobe: „Von der engen Beziehung zwischen den „Liquiden“ l und r zeugen die (nicht miteinander verwandten) Sprachen Chinesisch, Koreanisch und Japanisch, die nur einen der beiden Laute zu besitzen scheinen - die Witze darüber sind Region.“
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7 Kommentare
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24.10.2014 um 20:32 Uhr Lisa
Ich finde diese ganze Diskussion über Lesben total unsinnig, meine Schwester ist auch eine. Sicherlich war es am Anfang schwer und gewöhnungsbedürftig aber jetzt ist es normal für mich und meine Schwester bleibt meine Schwester und zwar als FRAU!!
05.10.2014 um 12:48 Uhr Antonym
“(...) mit der deutschen Männersprache kurzen Prozess macht (...)” - ist Männersprache der uneleganten NichtART.
Aber ich/wir/sie/es finde(n) es unklug, retrospektiv über die Geschichten(n) ob Deutscher oder Deutschinnen randomisiert zu gendern.
02.10.2014 um 17:18 Uhr anne
auch interessant finde ich die gedanken zur Lesbe von Lena Vandrey.
ich bin für vielfalt und die bennenung von identitäten, ob lesbe, schwuler, trans, inter.. natürlich schwierig, sie letztlich alle unter einen hut zu bringen? immerhin gut zu lesen, dass die `restmenge` im schriftbild nicht unbedingt mit einem anonymen `sternchen` oder einem `unterstrich` versehen wird.
die benennung `nicht-frau` ist eigentlich schade, haben insb. weibl. menschen seit tsd. jahren unter der knute der patriarchalischen männlichen logistik existieren müssen. das bedeutet/e diskriminierung, zweitrangigkeit, psychische folter, vergewaltigung , prostitution, ausgrenzung etc. - wenig positives.
Sheila Jeffreys , eine lesbe, plädiert in ihrem buch zur queer-politik, lesben erneut als die vorhut einer sozialen veränderung zu sehen. wie die einst starke lesbisch-feministische bewegung der siebziger jahre, in der für lesbische feministinnen gleichberechtigung in ihren beziehungen und in ihrer sexualität wichtig war, von der queeren politik der neunziger jahre unterdrückt wurde. (zitiert) für ihre gute einsicht und ihren mut, die dinge beim namen zu nennen, wird sie von etlichen `nicht-frauen` weniger geschätzt.
was mich betrifft, ich bin eine lesbe, eine frauenidentifizierte und wünsche mir, dass der begriff `lesbe` in zukunft nicht verschwindet, sondern nach all den vielen abwertenden synonymen durch männliche menschen aufgewertet und benannt wird ...
`Das Kleine Etymologicum` habe ich mir bestellt und bin gespannt auf die inhalte zur erkundung unserer patriarchalischen sprache, unserer männersprache deutsch ..
01.10.2014 um 12:06 Uhr Lena Vandrey
@ Kristin Kopf:
Vielen Dank! Ich verstehe jetzt besser, nämlich, dass ich mit “Nicht-Mann” nicht gemeint bin, obzwar ich mich gar nicht so sehr als FRAU fühle, sondern eher als LESBE. Für viele Menschen auf der Welt sind Lesben aber KEINE Frauen! Was also sind sie? Männer oder Nicht-Männer? In welchen Topf gehört die Lesbe und unter welchen Hut? In der “Restmenge” noch eine kleine Gruppe, die sprachlich nicht zu erfassen wäre?
Ein(e) Transsexuelle(r) sagte, er/sie sei Sohn und Tochter zugleich. Vom genetischen Standpunkt her ist das unmöglich, die Chromosome von Sohn und Tochter sind eben verschieden. Es geht also nur darum, wie wir uns fühlen? Ich, als lesbisches Weib, fühle mich als wandelnden Widerspruch! Die Forschung möge es mir verzeihen!
30.09.2014 um 15:25 Uhr Kristin Kopf
@Luise Pusch: Ganz herzlichen Dank für die freundliche Besprechung des Buches, ich habe mich sehr darüber gefreut!
@Lena Vandrey: Interessante Überlegungen, die für mich aber völlig am Kern der Fußnote vorbeigehen.
Ich habe diese beiden Wörter gewählt, um ein konkretes Kommunikationsproblem zu lösen—und zwar deshalb, weil es auch Menschen gibt, die sich weder als Mann noch als Frau ansehen, oder als beides, oder die die Unterscheidung komplett ablehnen, für die also eine binäre Einteilung an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht. Diese Menschen fallen sprachlich raus, wenn ich einfach nur “Männer” statt “Nicht-Frauen” und “Frauen” statt “Nicht-Männer” schreibe. (Selbst sie mit Männer- und Frauenbezeichnungen “mitzumeinen”, wie ich das dann nach der Fußnote getan habe, ist problematisch.)
Es geht bei den beiden Wörtern also nicht darum, einer Gruppe das Frau- oder Mannsein abzusprechen (quasi als Defizit) oder ihr ein anderes Geschlecht zuzuweisen, sondern darum, die komplette “Restmenge” zu erfassen: alle, die sich nicht als Frau betrachten, alle, die sich nicht als Mann betrachten.
30.09.2014 um 12:32 Uhr Lena Vandrey
Fantastisch! Was es nicht alles gibt!
Jetzt sind wir, meine Gefährtin und ich, zwei Nicht-Männer! Unsere Nichte ist ebenfalls ein Nicht-Mann, der Neffe eine Nicht-Frau. Das führt dazu, dass wir und die Nichte männlich sind und der Neffe als Nicht-Frau weiblich. Ebenfalls unsere Maurer auf den Dächern sind Nicht-Frauen oder Nicht-Weiber. Als solche würden sie zu einem DAS. Das Nicht-Weib hat sich bei uns eingeschlichen durch ein Nicht-MAN. Da hätten wir zweimal DAS…
Vor langer Zeit gab es einen Text von Rafael Seligmann und da wimmelte es von dem Wort NICHT-JUDE. Als Nicht-Jüdin schrieb ich ihm, dass Nichts, was mit Nicht anfängt, diskutiert werden kann. Er gab zu, dass er es auch nicht besser wüsste. Wie wäre es, wenn ich Sie mit Nicht-Schwul bezeichne und Ihre Gemahlin eine Nicht-Lesbe nenne und Sie beide als Nicht-Goys anrede? fragte ich. Das ist natürlich vertrackt!
Ob ich diesem Seligmann jetzt mitteile, dass er eine Nicht-Frau ist und seine Gattin ein Nicht-Mann und hinzufüge: Eines Tages besetzten die Jüdinnen Palästina…
Sprachlich ein Witz, historisch ein Unsinn…
Die Nicht-Frauen fügen den Nicht-Männern soviel Böses zu, so dass derartige “Erfindungen” schmählich erscheinen. Ab dem Moment, wo das Wort Nicht-Jude in der Welt auftauchte, kann jeder Ausdruck mit Nicht bestückt werden. Was zu Nichts führt… auBer zu Vernichtungen…
30.09.2014 um 00:05 Uhr Gudrun Nositschka
Bei dem Begriff “Ahne” brauche ich als Nicht-Mann nicht extra miteingeschlossen zu werden, da die deutsche Sprache für den Begriff sowieso “der” und “die” bereit hält: also die Ahne und der Ahne, ebenso wie die Buhle, der Buhle. Mit ist nicht klar, warum irgendwann die Ahnin präsentiert worden ist - vielleicht zusammen mit der Linguistin?