Der geschlechtsneutrale Schweizer
Aus Wir machen uns unsere Sprache selber: Ein Feminar. Siebenundundvierzigste Lektion.
[Dieser Text erschien am 13. Juni 2010 in der NZZ am Sonntag, Rubrik "Der Externe Standpunkt". Er wurde von der Redaktion der NZZ leicht verändert. Hier lesen Sie das Original.]
Was stellen Sie sich vor, wenn Sie Wörter wie ‚Schauspieler’, ‚Dichter’, Fußgänger’, ‚Leser’, ‚Schweizer’ hören oder lesen? Diese Wörter, so versichert uns die patriarchale Grammatik, sind geschlechtsneutral. Stellen Sie sich also einen geschlechtsneutralen Schweizer vor? Versuchen Sie es doch einmal. Sie sehen, es geht nicht - allerdings versichern mir manche Frauen, bei Schweizern ginge es vielleicht noch am ehesten.
Wenn ich diesen Text von 1995 vorlese, lacht das Publikum herzlich über “die eher geschlechtsneutralen Schweizer”. Die Debatte über (geschlechter)gerechten Sprachgebrauch war damals schon fast 30 Jahre im Gange. Inzwischen sind weitere 15 Jahre ins Land gegangen, der faire Sprachgebrauch hat sich weiter ausgebreitet, das Maskulinum steht beschämt in der Ecke und beweint den Verlust seiner Fähigkeit, selbstverständlich für beide Geschlechter zu stehen. Bis heute reizt das die Konservativen zu wütenden Attacken. Der rechte Schweizer will offenbar lieber geschlechtsneutral bleiben - selbst wenn er dafür ausgelacht wird.
Der jüngste Erfolg der feministischen Sprachpolitik ist der Leitfaden der Stadt Bern, über den sich derzeit im Internet zahlreiche Schweizer und ein paar Schweizerinnen in ausufernden Kommentaren ereifern. Dazu angestiftet werden sie von hämischen Zeitungsartikeln, die die lobenswerte Berner Initiative als typisch rotgrüne Hirnrissigkeit hinstellen. Sie werden der hechelnden Jagdmeute hingeworfen, und schon hetzt sie los.
Das Thema sprachliche Gerechtigkeit - auch noch für Frauen! - war schon immer ein Garant für massive Proteste von Männern, heute bevorzugt im Internet - somit Garant für erhöhte Besucherzahlen und mehr Profit durch Anzeigen. Vor einem Jahr generierte ein Interview mit mir - "Längerfristig bin ich für die Abschaffung des 'in'" - über 700 gehässige Kommentare bei der österreichischen “dieStandard”, der feministischen Ablegerin von “Der Standard”. Die normale Anzahl der Kommentare dort ist 10-20. Beim Tagesanzeiger bekam der Artikel “Keine Fussgängerstreifen mehr in Bern” bisher 428 Kommentare, und “Blick” mit seinem irreführend betitelten “Weder Vater noch Mutter - Beamte sollen künftig ‘das Elter’ sagen” 250 Kommentare. Die Blätter frohlocken: “So viele Kommentare hatten wir selten / noch nie!”
Um das Sommerloch vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft (das Maskulinim “Meister” passt) zu stopfen, kam den Schweizer Medien die Berner Initiative anscheinend wie gerufen.
Der Berner Leitfaden ist in freundlichem Ton abgefaßt und macht sehr vernünftige Vorschläge. Wiederholungen treten nicht auf.
Die Kommentare bei “Blick” und “Tagesanzeiger” sind dagegen extrem aggressiv und wiederholen sich gebetsmühlenartig. Kein Kommentator scheint auch nur die letzten drei Kommentare vor ihm - geschweige denn den Leitfaden selbst, der auch nicht verlinkt wird - gelesen zu haben. Die Anwürfe sind vorhersagbar; Marlis Hellinger hat sie schon vor Jahrzehnten analysiert und den Begriff “Diskurs der Verzerrung” dafür geprägt:
• Haben die nichts Wichtigeres zu tun?
• Sinnlose Verschwendung unserer Steuergelder
• Typische Beamten-Pedanterie
• Als Mann fühle ich mich diskriminiert, weil es “DIE Schweiz” und “DIE Schweizer” heißt (und anderes in dieser Art von Scherzbolden)
• Ich bin eine Frau und habe mich noch nie durch Sprache diskriminiert gefühlt.
Das letzte Argument erinnert an die Raucher, die behaupten, Rauchen schade ihnen nicht. Wenn sie den Schaden ignorieren, bedeutet das ja nicht, dass sie verschont bleiben. Die Raucher dienen den Interessen anderer (Tabakkonzerne). Genau das tun auch diese Streiterinnen für das mannhafte Deutsch. Sie dienen den Interessen der Männer.
Denn das mannhafte Deutsch - das ist wissenschaftlich einwandfrei bewiesen - ist eine gigantische und völlig kostenlose Werbemaschinerie für den Mann. Mit fast jedem Satz, in dem von Personen die Rede ist, erzeugt sie die Vorstellung einer männlichen Person. Wenn Sie es nicht glauben, fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Warum aber beteiligen sich die Frauen nicht an der Debatte und verteidigen das faire Deutsch gegen die Ignoranten? Nun, wir wissen eben seit Zsa Zsa Gabor: “Any publicity is good publicity” - die Jungs erledigen das hervorragend für uns, und wir können Energie sparen. Zudem haben wir ja bereits gesiegt. Der Leitfaden ist beschlossene Sache. In den Verlautbarungen der Stadt Bern wird es demnächst “Zebrastreifen” statt “Fußgängerstreifen”, “Team” statt “Mannschaft”, “Fahrausweis” statt “Führerausweis” und “lesefreundlich” statt “leserfreudlich” heißen. Sehr elegante Lösungen allesamt - alle vorgeschlagenen Wörter sind kürzer als die zu ersetzenden. Mir gefällt besonders der “Fahrausweis” - als Deutsche kann ich das Wort “Führer” einfach nicht mehr hören.
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5 Kommentare
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25.06.2010 um 00:23 Uhr Wolfgang Kauders
Erfreulich, wie einfach oft die im “Leitfaden” angebotenen Lösungen sind! An sich fallen damit auch die letzten vorgeschobenen Argumente gegen geschlechtergerechte Sprache weg. Es bleibt dann nur noch diese seltsame Urangst vor dem Verschwinden des Mannes in der Sprache übrig :-)
Dass auch die Wiener linksliberale Stadtzeitung FALTER diese Angst genauso wie BLICK bedient, ist allerdings ein besonderes Ärgernis: http://haftgrund.net/2010/06/23/jenseits-von-geschlechtergerecht-der-falter/
mit besten Grüßen
Wolfgang
21.06.2010 um 10:14 Uhr Klaus
Wir schreiben 2010. Es gibt Textanalyseprogramme. Was soll ein Programm bei,
“Alle Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller,
die ihre Adresse hinterlassen, erhalten ein Antwortschreiben.”
“Ganz besonders gilt dies auch für die Klimaexperten
und für die Weltraumforscherinnen.”
denken?
So ein Schwachsinn kommt dabei raus, wenn sich irgendwelche Unbewusste/Unbedarfte (wahrscheinlich Amtsstuben-Sprachpatriarchen, die ihre sprachlichen Niederlagenwunden lecken) um die Sprache annehmen.
“KlimaexpertInnen” und “WeltraumforscherInnen” ist eindeutig.
Wenn “Gesuchsteller” “ihre Adresse” hinterlassen, dann sind Frauen Hauptmieterinnen oder der Gesuchsantrag ist ungültig, weil er falsche Angaben machte!
20.06.2010 um 12:00 Uhr Stephanie
... das hört sich doch schon gut an! Es ist immer günstig wenn die Worte kürzer werden.
Übrigens in der DDR hieß es einst Fahrerlaubnis (auch etwas fragwürdig).
An den Begriff Führerschein musste ich mich auch erst mühsam gewöhnen.
Stephanie
19.06.2010 um 17:01 Uhr Amy
Ein prima Leitfaden mit und für die Zukunft. Gute Frauenpolitik erkennt frau immer wieder am Geschrei der Männer. Männer signalisier(t)en uns kontinuierlich PhallustÄngste, sogar wenn die Sprache einfacher und verständlicher zu gestalten ist.
Typisch für ihre Sichtweise sind hämische Reaktionen überhaupt bei allen feministischen Themen. Sie leben wie in einer Endlosschleife, kommen aus ihren patriarchalen Denkmustern einfach nicht heraus und reagieren äusserst beleidigt, wenn frau zwecks Empathietraining mal auf den unsäglichen Satz “Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker” hinweist.
Mir gefällt u.a. das Wort Team statt Mannschaft -z.B. mit “Mädchen-/Frauen-mannschaft” könnte ich mich nie wirklich identifizieren.
Und den `Führer` akzeptiere ich ausnahmsweise nur mit Blick auf die Herstellerfirma Führer-Treppenlifte, weil so geräuscharm und praktisch für die Frau..
Danke an Luise und die Stadt Bern!
19.06.2010 um 11:23 Uhr Evelyn
Der Berner Leitfaden scheint eine wunderbare Variante zu sein, die sich sehen lassen kann. Die hämischen Massenproteste verstehe ich nur zu gut, fühlen sich Männer doch in ihrem phallischen Potenzwahn irritiert: Und da soll Sprache nicht wichtig sein. Doch ein Massenauflauf zeigt immer, dass etwas sehr wichtig genommen wird!