Biographien Wera Iwanowna Sassulitsch
(Вера Ивановна Засулич; Vera Ivanovna Zasulič [wissenschaftliche Transliteration]; Vera Ivanovna Zasulich [englischsprachiger Raum])
geboren am 8. August 1849 in Michailowka, Russland
gestorben am 8. Mai 1919 in Petrograd, UdSSR
russische Revolutionärin
175. Geburtstag am 8. August 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
»Noch vor allen ›revolutionären Träumereien‹ […] machte ich dumme Pläne, wie ich wohl am besten einem Gouvernantendasein entgehen könnte: Ein Junge hätte es an meiner Stelle natürlich viel leichter gehabt, […] aber das ferne Trugbild einer Revolution machte mich einem Jungen gleich: Ich konnte über ›die Sache‹, ›Heldentaten‹ und ›den Kampf‹ träumen ...«
Träumereien, die Wera Sassulitsch schon früh in die Realität umsetzt: für ihre volksaufklärerischen Ambitionen, Teilnahme an politischen Zirkeln und vermeintlichen linksextremistischen Aktivitäten steht sie 1869 zwanzigjährig erstmals vor Gericht und wird zu zwei Jahren Haft verurteilt, denen vier Jahre Verbannung im Norden Russlands folgen.
1875 schließt sich die ausgebildete Lehrerin der Bewegung Gang ins Volk an. Der u. a. von ihr geleitete Kreis der Aufständischen wird jedoch 1877 zerschlagen. Von ZeitgenossInnen als enthusiastische und unermüdliche Kämpferin beschrieben, verharrt Sassulitsch nicht lange in der erzwungenen Untätigkeit. Am 24. Januar 1878 geht sie durch das Attentat auf den Moskauer Stadtkommandanten Trepow, der widerrechtlich einen politischen Häftling hatte auspeitschen lassen, in die revolutionäre Geschichte ein. Die Tat polarisiert die Öffentlichkeit. Sensationellerweise wird Sassulitsch, die später jeden politischen Terrorismus ablehnt, freigesprochen, muss jedoch trotzdem emigrieren, da der Zar interveniert.
Im Genfer Exil entwickelt sie eine rege journalistische und politische Tätigkeit u. a. als Mitbegründerin der ersten russischen marxistischen Gruppierung Befreiung der Arbeit. Den Anstoß dazu gibt eine intensive Auseinandersetzung mit den Schriften von Marx und Engels, die durch einen Briefwechsel ergänzt wird. Sassulitsch übersetzt Werke der beiden ins Russische und unterstützt deren Rezeption durch eigene Artikel.
1899 lernt sie Lenin kennen, mit dem sie im folgenden in der Zeitschrift Der Funke zusammenarbeitet. Spätestens auf der II. Internationale dividieren sich die Positionen jedoch so weit auseinander, dass eine Zusammenarbeit unmöglich wird. Die überzeugte Sozialdemokratin Sassulitsch findet nach ihrer endgültigen Rückkehr nach Russland 1905 keinen Anschluss mehr an die dominierenden radikal-revolutionären Bolschewiki und steht auch – unbestechliche Zweiflerin und Idealistin in einer Person – der Oktoberrevolution 1917 skeptisch gegenüber. Nur anderthalb Jahre nach dieser politischen und persönlichen Niederlage stirbt Wera Sassulitsch, die zeit ihres Lebens der früh erträumten ›Sache‹ absoluten Vorrang vor ihrem von Entbehrungen und Einsamkeit geprägten Privatleben gab.
Text aus dem Kalender »Berühmte Frauen 1999«
Verfasserin: Susanne Strätling
Zitate
Neben ihrer großen Intelligenz und einer außerordentlichen moralischen Integrität zeichneten sie aus: eine ungewöhnliche Bescheidenheit und Schüchternheit, die sich bis zur Abscheu davor steigerte, ihre Person irgendwie in den Vordergrund zu drängen. Sie zog es vor, immer unbemerkt, im Schatten zu bleiben, und nur mit diesen Eigenschaften ist zu erklären, warum ihr Name den arbeitenden Massen entweder kaum oder überhaupt nicht bekannt ist […].
(L. G. Dejč)
115. Sassulitsch, W. P. – bekannte russische Revolutionärin. Wurde das erste Mal im Jahre 1869 im Zusammenhang mit der Affäre Netschajew festgenommen, aber bald darauf befreit. Ende des Sommers 1875 arbeitete sie in Kiew, wo sie sich an einem »Rebellenzirkel« teilnahm, der sich das Ziel stellte, einen Aufruhr im Landkreis Tschigirin, Gouvernement Kiew, hervorzurufen. 1877 schoß W. Sassulitsch auf den Petersburger Bürgermeister Trepow, der den Befehl erlassen hatte, auf den politischen Strafgefangenen Bogoljubow (Jemeljanow) die Körperstrafe anzuwenden, da dieser bei einem Zusammentreffen mit ihm sich geweigert hatte, seine Mütze abzusetzen. Das Schwurgericht, das sich vorwiegend aus einfachen Bürgern zusammensetzte, sprach W. Sassulitsch frei. Danach wurde sie zu einer der populärsten Persönlichkeiten in Rußland. Nach der Spaltung der Organisation »Semlja i Wolja« (»Boden und Freiheit«) schloß sich W. Sassulitsch dem »Tschornyj Peredel« (»Schwarze Umverteilung«) an. Später beteiligte sie sich aktiv an der Gründung der ersten marxistischen Organisation – der Gruppe »Oswoboshdenje Truda« (»Befreiung der Arbeit«) – und wurde Redaktionsmitglied der Zeitung »Iskra«. Nach der Spaltung der RSDAP auf dem II. Parteitag schloß sich W. Sassulitsch den Menschewiki an. Während des Weltkrieges nahm sie eine sozialpatriotische Position ein. Sie starb im Mai 1919 in Petersburg.
(Trotzki, Leo (1996): Die Balkankriege 1912. Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth. Essen: Arbeiterpresse (Trotzki-Bibliothek), S. 560, Anmerkung 115)
Links
Google Buchsuche: Sassulitsch.
Online verfügbar unter http://books.google.de/books?q=Sassulitsch+OR+Zasuli%C4%8D+OR+%D0%97%D0%B0%D1%81%D1%83%D0%BB%D0%B8%D1%87+OR+Zasulich, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
Internet Movie Database: Der Fall Wera Sassulitsch (Fernsehfilm, 1968).
Online verfügbar unter http://www.imdb.com/title/tt0377896/, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
Marx, Karl (2009): Brief an V. I. Sassulitsch. Mit Anhang (Entwürfe zum Brief) und Lesarten. Zeno.org.
Online verfügbar unter http://www.zeno.org/Philosophie/M/Marx,+Karl/Brief+an+V.+I.+Sassulitsch, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
Marxist Writers (2003): Vera Zasulich. Kurzbiografie und drei Texte von 1897 (ins Engl. übertragen).
Online verfügbar unter http://www.marxists.org/archive/zasulich/index.htm, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
Sponsel, Rudolf: Russische Sozialrevolutionäre. SASSULITSCH, Vera 1851-1919 [Nr.130]. Kurzbiografie (deutsch).
Online verfügbar unter http://www.sgipt.org/galerie/rs/DCUSP/RusRev/RusSozR.htm, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
Trotzki, Leo: Leo Trotzki: Mein Leben - Kapitel 12. Enthält Erinnerungen an Sassulitsch.
Online verfügbar unter http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/leben/12-spalt.htm, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
WorldCat.org: Suchergebnis für Sassulitsch (alle bekannten Schreibweisen). Literatur- und Mediensuche in Bibliotheken weltweit.
Online verfügbar unter https://www.worldcat.org/search?q=Sassulitsch+OR+Zasulic+OR+Засулич+OR+Zasulich, zuletzt geprüft am 29.04.2019.
Literatur & Quellen
Quellen
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Weiterführende Literatur
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Zasulič, Vera Ivanovna (1960): Stat'i o russkoj literature. Moskva. Gosudarstvennoe Izdat. Chudozestvennoj Literatury.
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