geboren am 5. Juni 1941 in Buenos Aires
argentinische Pianistin
80. Geburtstag am 5. Juni 2021
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
»Wenn man beginnt Routine zu haben, dann imitiert man sich selbst. Das ist das Schlimmste. Das wird mir nie passieren.« (Martha Argerich)
Martha Argerich Buenos Aires 1947. Ein sechsjähriges Mädchen sitzt im Konzertsaal und lauscht. Claudio Arrau spielt Beethovens 4. Klavierkonzert. Der 1. Satz ist gerade verklungen. Sehr eindringlich setzen die Streicher im unisono ein, sehr verhalten und schüchtern antwortet das Klavier. Es ist spät. Marthita gähnt, ihr Kopf droht nach vorn zu fallen. Die Streicher spielen nur noch Fetzen ihres markanten Themas. Und dann, quasi aus dem Nichts, unnachgiebig, schlägt der Pianist einen Triller an. Einen nach dem anderen. Das Mädchen zuckt zusammen. »Es war wie ein Schock, wie ein Stromschlag«, erinnert sich Martha Argerich. Mit diesen Trillern wird ihr Schicksal besiegelt. Musik als einzige Möglichkeit, sich der Übermacht der Erwachsenen zu entziehen.
Schon als Dreijährige sitzt sie am Klavier ihres Kindergartens, spielt eine Melodie, ohne jemals unterrichtet worden zu sein. Ein Freund wollte sie ärgern, behauptete triumphierend, sie könne das nicht. Wenige Jahre später, 1949, gibt sie ihr 1. Orchesterkonzert. Mozart, Beethoven, Bach. Ein Wunderkind, das kurz vor dem Auftritt zu explodieren glaubt, aus Angst, sich zu verspielen. Marthita verspielt sich nicht, keine Passage ist ihr zu schwierig, alles scheint sie mit Leichtigkeit zu bewältigen. Die Tasten des Flügels erscheinen im Rampenlicht wie riesige Krokodilszähne, umgeben von einem undurchsichtigen, schwarzen Raum. Das wird lange so bleiben, verstärkt durch ihre extreme Kurzsichtigkeit. Martha weigert sich, mit Brille aufzutreten, perfekte Schönheit ist ihr Markenzeichen.
Alle verhätscheln, alle verwöhnen sie, alle erwarten Überragendes von ihr. Als sie zehnjährig dem argentinischen Präsidenten vorgestellt wird, erzählt sie ihm, daß sie bei Friedrich Gulda in Wien studieren wolle. Prompt wird dem Vater eine Stelle als Handelsattaché in Wien verschafft.
Argerich wird Guldas einzige Schülerin sein. Heute noch spricht sie von einer »Osmose«. Gulda habe sie vor allen anderen geprägt, er war es, der ihr den Humor in der Musik gezeigt habe. Nach anderthalb Jahren Unterricht gewinnt sie den Busoni-Wettbewerb in Bozen, unmittelbar darauf den Internationalen Musikwettbewerb in Genf.
Sie ist 16 Jahre alt. Die Konzertsäle in aller Welt stehen ihr offen. Argerich reist von Stadt zu Stadt, begleitet von Prokofiev, Liszt, Chopin, Schumann. Von Prokofiev fühlt sie sich gemocht, der habe ihr nie Streiche gespielt. Aber Chopin nach der Liszt-Sonate – das sei problematisch, der würde extrem eifersüchtig sein. Und Schumann? Schumann stehe ihr ganz besonders nah, an ihm entdecke sie immer wieder Neues.
Sie ist jetzt ganz oben, scheint alles erreicht zu haben. Doch irgendwo muss es eine Grenze geben, eine Wand, gegen die sie anrennen kann, die sie trägt. Nur eine Argerich kann sich einer Argerich in den Weg stellen. Mit 17 Jahren sagt sie ihr 1. Konzert ab. Eine Schnittwunde würde sie leider verhindern. Vorsichtshalber schneidet sie sich wirklich in den Finger, so tief, dass sie auch das nächste Konzert absagen muss. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, schauen, wie weit sie gehen kann.
Bis sie unmittelbar vor dem Abgrund steht. Eine Krise, starke Depressionen. Zwei lange Jahre schaut Argerich eine Fernsehshow nach der anderen, die Klaviertasten schlägt sie nur noch selten an. Was tun mit diesem Leben, das so beängstigend verheißungsvoll begann? Sie habe flinke Finger, spreche mehrere Sprachen, in ihren Augen die idealen Voraussetzungen, Sekretärin zu werden. Enge FreundInnen wissen dies zu verhindern, können sie 1964 endlich überreden, wieder zu konzertieren.
Martha Argerich spielt fulminant wie immer, mit ungewöhnlich starkem Anschlag, spontan, risikoreich. Was in der Probe erarbeitet wurde, muss im Konzert keine Gültigkeit haben. 1965 gewinnt sie den Chopin-Wettbewerb in Warschau. Nichts kann sie aufhalten. Spielen will sie, obwohl sie das Reisen, die Auftritte, »den ganzen Zirkus drum herum« hasst. Dreimal heiratet sie, dreimal lässt sie sich scheiden, dreimal entbindet sie ein Mädchen. Sie ist impulsiv, rebellisch, eigenwillig, niemand kann ihr das Wasser reichen. Nur diese Angst vor der Bühne wird sie nicht los.
1981 beschließt sie, nicht mehr allein aufzutreten, gibt ausschließlich Konzerte und Kammermusik, am liebsten zusammen mit Freunden. 1997 muss sie sich einer Krebsoperation unterziehen. Nur sehr zögerlich, seit etwa zehn Jahren, wagt sie sich ab und an wieder allein auf die Bühne, ständig an sich zweifelnd – das sei ihre »Spezialität«.
In Lugano findet jedes Jahr ein nach ihr benanntes Festival statt, wo sie, sichtlich zufrieden, Familie und Freunde um sich schart. Ihre technische Brillanz und atemberaubende Musikalität sind ungebrochen. Nur eines wird sie niemals in ihrem Leben spielen können: Beethovens 4. Klavierkonzert. Es sei viel zu wichtig, sagt sie, völlig ausgeschlossen. Sie wisse ja nicht, was danach geschehe. Das mache ihr Angst.
Verfasserin: Uta Ruscher
Zitate
I think interpretation is trying to liberate what one is unconscious about. When one can let go some things one doesn't know are there - the unexpected things and the surprises in the performance - that's when it's worthwhile. This is also what I appreciate in other performers. When they are masters of their means of expression, this does not exactly interest me. That interests me in a teacher, but in a performer I am interested in what happens behind or in spite of the things the performer consciously wants to do. Maybe I am a little bit of a voyeur, you know, that way. But this is what I love.
(Martha Argerich in einem Interview mit Dean Elder, 1978)
Links
Martha Argerich Recordings. English List.
Online verfügbar unter http://www.argerich.jp/Recordings_E.htm, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
Internet Movie Database: Martha Argerich. Filme.
Online verfügbar unter http://www.imdb.com/name/nm1366374/, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Argerich, Martha. Bücher und Medien.
Online verfügbar unter http://d-nb.info/gnd/123997631, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
KlassikAkzente (1997): Martha Argerich.
Online verfügbar unter https://www.klassikakzente.de/marthaargerich, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
MusicalAmerica: Musician of the Year 2001 – Martha Argerich.
Online verfügbar unter http://www.musicalamerica.com/features/?fid=66&fyear=2001, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
Pusch, Luise: Robert Schumann | Empfehlungen. FemBio – Institut für Frauen-Biographieforschung.
Online verfügbar unter http://www.fembio.org/biographie.php/frau/empfehlungen-fuer-frauen/robert-schumann/, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
PYR: Martha Argerich. The concerts. Blog (engl., endet 2019).
Online verfügbar unter http://marthargerich.blogspot.com/, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
RSI: Martha Argerich (Suchergebnisse – Videos und Tondokumente). (italienisch und englisch).
Online verfügbar unter https://www.rsi.ch/ricerca/?q=Martha+Argerich, zuletzt geprüft am 25.05.2021.
Literatur & Quellen
Bellamy, Olivier (2011): Martha Argerich. Die Löwin am Klavier. 1. Aufl. München. Bertelsmann. ISBN 978-3-570-58023-3. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Goertz, Wolfram (Hg.) (2006): Martha Argerich. Medienkombination (Buch: Leben und Musik der großen Pianistin ; CD: Argerich spielt Schumann, Bartók, Prokofjew ; Klavierkonzerte). Hamburg. Zeitverl. Bucerius. (Die Zeit Klassik-Edition, 7) ISBN 3-476-02207-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.