(Esther Loewy [Geburtsname])
geboren am 15. Dezember 1924 in Saarlouis
gestorben am 10. Juli 2021 in Hamburg
Akkordeonistin und Sängerin, eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters in Auschwitz, Mitbegründerin und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees
100. Geburtstag am 15. Dezember 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
„Wir leben trotzdem!“ ist ihr Lebensmotto, wie auch eins der Lieder heißt, das sie sang: „Mir leben ejbig“.
Geboren wurde die Musikerin als Esther Loewy am 15. Dezember 1924 in Saarlouis als jüngstes von fünf Kindern. Ihr Vater war Oberkantor der Jüdischen Gemeinde, die Mutter sorgte für die Familie. Wie damals in gutbürgerlichen Familien üblich, erhielt sie bereits als Kind Klavierunterricht. Musik spielte eine große Rolle in ihrer weltoffenen Familie, und sie erlebte eine glückliche und unbeschwerte Kindheit, die jedoch mit der Machtübernahme der Nazis abrupt endete. Erst einmal bedeutete es, dass sie nun in eine jüdische Schule gehen musste, und so kam sie in das Landschulheim Herrlingen, eine sehr fortschrittliche jüdische Einrichtung.
Anschließend nahm sie an der Vorbereitung für die “Alijah”, der Einwanderung nach Palästina teil, erst im Palästina-Vorbereitungslager Gut Winkel in der Nähe von Berlin, danach in Ahrensdorf. Als 1941 alle Vorbereitungslager geschlossen wurden, wurden alle Jugendlichen, die sich dort aufhielten, im Zwangsarbeitslager Neuendorf interniert. Von dort aus wurde Esther Loewy 1943 nach Auschwitz deportiert. Erst einmal hatte sie dort eine völlig sinnlose Arbeit zu verrichten: Sie musste Steine von einer Seite eines Felds zur anderen schleppen. Als die Dirigentin Zofia Czajkowska Musikerinnen für das neu zu gründende Frauenorchester suchte, nutzte Esther Loewy ihre Chance. Es gab zwar kein Klavier, aber es gelang ihr auf Anhieb mit etwas Üben, Akkordeon zu spielen, wodurch sie dennoch als Musikerin aufgenommen werden konnte. Nach drei Wochen Üben mussten die Frauen morgens und abends am Tor stehen und spielen, wenn die Arbeitskolonnen aus- bzw. einrückten.
Nach einem halben Jahr bot sich ihr die Chance, in ein anderes Lager zu kommen, das kein Vernichtungslager war. So wurde sie mit etwa 70 anderen Frauen in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Als Zwangsarbeiterin musste sie erst einmal Kohlen auf- und abladen, einen Monat später konnte sie bei der Firma Siemens anfangen, die im Lager eine Filiale hatte. Sie montierte dort Schalter für Unterseeboote; als Vorarbeiterin war es ihr möglich, an Sabotageakten mitzuwirken.
Im April 1945 mussten alle Gefangenen, die noch laufen konnten, das Lager verlassen. Auf diesem von der SS bewachten Todesmarsch gelang ihr zusammen mit einigen Freundinnen die Flucht. Nach einem Aufenthalt in Gehringdorf bei Fulda, wo alle Jugendlichen, die vor ihrer Internierung in einem Vorbereitungslager gewesen waren, sich melden und auf ihre Ausreise nach Palästina warten konnten, gelang es ihr noch im gleichen Jahr dorthin zu kommen. Anfangs lebte sie bei ihrer Schwester und ihrem Schwager. Schnell fand sie Arbeit in einer Zigarettenfabrik und nahm nebenher Gesangsstunden. Die Aufnahme in den israelischen Künstlerverband wurde ihr jedoch verwehrt, da sie Mitglied im „Ron-Chor“ war, einem kommunistischen Arbeiterchor. So war es ihr unmöglich, von ihrer Musik zu leben. In diesem Chor lernte sie ihren Mann Nissim Bejarano kennen, den sie 1950 heiratete. Ihre Tochter Edna kam 1951 zur Welt, ihr Sohn Joram 1952. Einige Jahre trug sie zum Familieneinkommen mit Blockflötenunterricht bei.
Während ihrer Anfangszeit in Palästina war das Land noch in Aufbruchstimmung. Esther Bejarano wollte mitarbeiten und etwas dazu beitragen, da sie davon ausging, dass dies einmal ihr Land würde, aber für sie und die Menschen aus ihrem Bekanntenkreis war es selbstverständlich, dass sie dies zusammen mit der arabischen Bevölkerung tun wollten. „Wir hatten die Idee, wir arbeiten zusammen, wir leben zusammen und wir gestalten das kulturelle Leben zusammen. Damals hat noch kein Mensch daran gedacht, die Araberinnen und Araber zu vertreiben. Im Gegenteil, wir wollten mit denen zusammen sein, das war unsere Devise.“ Mit dieser Einstellung gehörten sie jedoch zu einer Minderheit.
Nach dem Sinai-Krieg, den er nicht als Verteidigungskrieg, sondern als Krieg gegen die arabische Bevölkerung ansah, war für Nissim Bejarano klar, dass er nie wieder in einen Krieg ziehen wollte, und er wollte das Land verlassen. Die einzige Möglichkeit, die das Paar sah, war die Auswanderung nach Deutschland. Von Bekannten hatten sie gehört, dass die BRD ein ganz anderes Deutschland sei, als das, das sie gekannt hatte, eines ohne Antisemitismus und ohne Hass auf AusländerInnen. Trotzdem hatte sie ein ungutes Gefühl, aber glaubte, zusammen mit ihrem Mann die Angst vor den Deutschen verlieren zu können. In Hamburg bauten sie sich eine neue Existenz auf, die politische Situation hat sie erst einmal nicht gekümmert. Dies sollte sich schlagartig ändern, als Esther Bejarano miterlebte, wie die Polizei eine Gruppe der NPD schützte und die GegendemonstrantInnen festnahm. Sie war völlig schockiert und trat am nächsten Tag in die VVN-BdA ein (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten). Seit dieser Zeit war politischer Aktivismus für sie selbstverständlich: “Als politisch interessierter Mensch muss ich sehen, was geschieht, und dagegen kämpfen.”
In den 1970er Jahren fing Esther Bejarano mit ihrer ersten Musikgruppe Siebenschön an, in den 1990er Jahren gründete sie mit ihrer Tochter und ihrem Sohn die Gruppe Coincidence. Seit 2009 war sie Mitglied der Rap-Band Microphone Mafia, in der drei Generationen mit drei verschiedenen Religionen zusammen spielen und durch gelebtes Miteinander nicht nur gegen Faschismus antreten, sondern auch für Toleranz. Auf dem Programm der Gruppe stehen Lieder aus dem jüdischen Widerstand, von Brecht und Theodorakis, französische und israelische antimilitaristisch-pazifistische Lieder und Lieder aus dem italienischen Widerstand. Sie werden in verschiedenen Sprachen gesungen und als Rap neu interpretiert.
Neben ihren Konzerten leistete Esther Bejarano lange Jahre Aufklärungsarbeit in Schulen und setzte sich als Zeitzeugin für Erinnerungsarbeit ein.
Esther Bejarano wurde vielfach ausgezeichnet, so z.B. mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille, der Biermann-Ratjen-Medaille, dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland, dem Clara-Zetkin-Frauenpreis und dem Großen Bundesverdienstkreuz.
(Text von 2014; aktualisiert 2024)
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
„Das ‚Orchester’, mit dem sie im Lager konfrontiert war, sollte man auch nicht „Das Mädchenorchester von Auschwitz“ nennen – Titel des Buches von Fania Fénelon. Natürlich waren wir vorwiegend jung, sonst wären wir nicht als „arbeitsfähig“ ins Lager hereingelassen worden. Zum Aussortieren hatte man ja die Gaskammern. Die Altersunterschiede waren jedoch relativ groß.“ (Anita Lasker-Wallfisch in ihrem Vorwort zu: Richard Newman mit Karen Kirtley: Alma Rosé: Wien 1906/Auschwitz 1944. Bonn 2003, Weidle Verlag)
“Man kann das Erlebte nie vergessen, am meisten erinnert man sich an ganz gravierende Erlebnisse. Eines davon sind die Züge, die ins Gas fuhren.”
“Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück.”
„Wir waren für die Gründung eines israelischen Staates, wie viele Jüdinnen und Juden, die nach Palästina gekommen waren. Es war uns wichtig, einen Staat aufzubauen, in dem alle Menschen leben können, egal welcher Religion, Nationalität oder Kultur sie angehörten, ohne ausgegrenzt und schon gar nicht staatlich verfolgt, militärisch bedroht und überfallen zu werden.“
„Wir sind damals bei der israelischen Staatsgründung davon ausgegangen, dass auch ein palästinensischer Staat gegründet würde.“
Links
Literatur & Quellen
Auschwitz und heute: Ein Interview mit Esther Bejarano
Interview von Bettina Böttinger mit Esther Bejarano
Literatur von Esther Bejarano:
Esther Bejarano: Man nannte mich Krümel. Eine jüdische Jugend in den Zeiten der Verfolgung. Hg. vom Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik e.V. Hamburg, Curio-Verlag, 1989
Esther Bejarano & Birgit Gärtner: Wir leben trotzdem. Esther Bejarano – vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden. Bonn, Pahl-Rugenstein Verlag, 2007, 3. korrigierte & erweiterte Auflage
Esther Bejarano: Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts. Hamburg, LAIKA-Verlag, 2013
Esther Bejarano mit Sascha Hellen: Nie schweigen. Paderborn, Bonifatius, 2022
„Das Haus brennt“. Esther Bejarano spricht. Hg. vom Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e. V. Hamburg, Dülling und Galitz, 2024
Literatur über Esther Bejarano
Anonym: Handeln durch politische Zeugenschaft. Was verbindet Hannah Arendt und Esther Bejarano? München, GRIN, 2023
Lehmann, Benet: Esthers Spuren. Die Geschichte der Shoah-Überlebenden Esther Bejarano und der Kampf gegen Rechtsextremismus. Göttingen, Wallstein, 2024
Esther Bejarano in der Deutschen Nationalbibliothek
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