(geb. Elsa Kotányi, wiederverh. Widakovich)
geboren am 23. November 1876 in Wien
gestorben am 20. Januar 1943 in Buenos Aires
österreichische Schriftstellerin und Philosophin
80. Todestag am 20. Januar 2023
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Die aus guten Gründen als „feministische Vordenkerin und Philosophin“ (Spreitzer, 594) geltende Autorin Else Jerusalem wurde 1876 als Elsa Kotányi in Wien geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihren Roman Der heilige Skarabäus (1909). “Ich habe nur selten erlebt, dass ein Buch ein solches Aufsehen erregt hat” (Francé-Harrar, 75), erinnert sich die Schriftstellerin und Biologin Anni Francé-Harrar noch nach mehr als einem halben Jahrhundert. Anhand des durch die Hände einer Reihe von „Bordellmamas“ (Jerusalem 2016, 248) gehenden Rothauses führt Jerusalem den Lesenden die verschiedenen Funktionsweisen eines solchen Etablissements vor. Zugleich erzählt sie die Geschichte des in dem Haus geborenen Mädchens Milada. Der Bordellroman erreichte bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten etliche Auflagen, wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und 1928 verfilmt. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde er von den neuen Herrschern verboten und war nach 1945 in Vergessenheit geraten. Nur 1954 erschien eine stark zusammengestrichene Ausgabe. Erst mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert begannen einige feministische Literaturwissenschaftlerinnen den Roman wiederzuentdecken und sich für ihn zu interessieren. Es sollte jedoch bis zum Jahr 2016 dauern, bis im Verlag Das vergessene Buch eine von Brigitte Spreitzer herausgegebene ungekürzte Neuausgabe erschien, der die Herausgeberin ihre überaus instruktive Spurensuche zur Biographie der Autorin angehängt hat.
Zu Jerusalems weiteren Publikationen zählen einige selbständig publizierte Texte wie Gebt uns die Wahrheit. Ein Beitrag unserer Erziehung zur Ehe (1902) und Die Angst der Geschlechter (1910), etliche Zeitschriften-Artikel u.a. in Maximilian Hardens Zukunft. Außerdem verfasste Jerusalem die Komödie der Sinne (1902), das Schauspiel Steinigung der Sakya (1928) sowie einige Novellen, unter ihnen noch unter dem Namen E. Kotányi die Novellensammlung Venus am Kreuz (1899), dessen titelstiftende Erzählung sie bereits ein Jahr vor dem Erscheinen von Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl (1900), „im fast durchgehenden Einsatz der Technik des inneren Monologs“ (Spreitzer, 561) verfasst hatte. Anette Kliewer macht in dem achtzig Seiten umfassenden Text eine „biologistische Triebtheorie“ aus, da die als Ich-Erzählerin fungierende Prostituierte Garda, der Argumentation der Novelle zufolge „das Blut und die Schamlosigkeit ihrer Mutter geerbt“ habe, und verortet die Literarisierung der Hysterie Gardas zwischen den beiden Hysterie-Modellen in Hedwig Dohms Werde, die Du bist (1894) und Gabriele Reuters Aus guter Familie (1895), da Jerusalem den „weiblichen ‚Wahnsinn’ […] als Flucht vor einer widerspruchsvollen, widersinnigen Gesellschaft, welche die Frauen zum Sexualobjekt herabwürdigt“, darstelle (Kliewer, 234).
1939 erschien Jerusalems bis heute wenig beachtetes philosophisches Hauptwerk Die Dreieinigkeit der menschlichen Grundkräfte, in dem sie als erste ein drei- beziehungsweise viergliedriges Ordnungsschema von geradezu ubiquitärer ideen- und denkgeschichtlicher Wirksamkeit aufdeckte. Jerusalem bezeichnet die drei „Grundkräfte“ als Trieb, Tat und Wirkung, „wobei der Trieb mit dem Fühlen, die Tat mit dem Denken und die Wirkung mit dem Handeln ursächlich zusammenhängt.“ (Jerusalem 1939, 11) Die an sich vollständige Trias der „drei Grundkräfte“ schließt sich mit einer vierten, dem „Trieb zum Sein“ zu „eine[r] einzige[n] Kraft zusammen[…]“ (Jerusalem 1939, 13). Somit werden sie „Drei in Eins und entsprechen solchermaßen der Formel der Trinität, die seit Urzeiten die geistige Entwicklung der Menschheit begleitet und beherrscht hat.“ (ebd.) Denn „[v]on welchem Standpunkte aus man die Trinität betrachtet, sei es als Religion, als Kosmogonie oder Ideenlehre – immer und überall – und das ist das Wesentliche – zeigt sie einen Mittelpunkt auf, von dem aus die Dreiheit durchleuchtet, getrennt und wieder in Eins geschlossen werden kann.“ (Jerusalem 1939, 15) Jerusalem präfiguriert damit ein Ordnungsprinzip, das erst 1991 von dem Marburger Philosophen Reinhard Brandt – ohne Kenntnis von Jerusalems Werk – (wieder)entdeckt, in die Formel 1, 2, 3 / 4 gebracht und in seinem Buch D’Artagnan und die Urteilstafel: über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte (1991) anhand zahlreicher Beispiele aus der Kulturgeschichte belegt werden sollte.
Jerusalems in ihrem Hauptwerk niedergelegte (Spät-)Philosophie strebt ähnlich wie die Philosopheme von Schopenhauer und seinen SchülerInnen Julius Bahnsen, Helene Druskowitz, Eduard von Hartmann und Philipp Mainländer die „Weltüberwindung“ und schließlich „Weltaufhebung“ an (Jerusalem 1939, 39), wobei sich „[d]er Trieb zum Sein [...] in den Individuen solange verkörpern [muß], bis er sich, in Erkenntnis seines wahren Selbst, in den Trieb zum Nichtsein verwandelt.“ (Jerusalem 1939, 23) So gilt der Philosophin der „Trieb zum Nichtsein“ als „das letzte erkennbare Ziel der Menschheit“ (Jerusalem 1939, 14).
In jungen Jahren korrespondierte die angehende Literatin mit Marie von Ebner-Eschenbach und Arthur Schnitzler, um sich deren Hilfe und Rat als Autorin zu sichern. Später wurde Jerusalem zudem mit einer Reihe weiterer Wiener AutorInnen bekannt, unter ihnen Jakob Wassermann, Hermann Bahr sowie Felix Salten, dem späteren Autor des von Walt Disney verfilmten Tier-Romans Bambi – eine Lebensgeschichte aus dem Walde (1923), der zugleich als Verfasser der ebenso fiktiven wie pornografischen Prostituierten-Autobiografie Josephine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt (1906) gilt.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann Jerusalem, sich in den Reihen der Frauenbewegung zu engagieren. So hielt sie etwa im April 1901 einen Vortrag Über unsere Erziehung zur Ehe, „die sexuelle und geistige Aufklärung von Mädchen, in dem sie „die freie Liebeswahl, die Entlarvung und Aufhebung der Doppelmoral und Scheinheiligkeit“ forderte (Spreitzer, 550). Ein Jahr später wurde er unter dem Titel Gebt uns die Wahrheit gedruckt. Auch trat sie der Frauenliga gegen Mädchenhandel bei und beobachtete als deren Mitglied den Prozess gegen die damals berüchtigte Wiener Bordellbesitzerin Regina Riehl, die mit Wissen der korrupten Wiener Polizei 24 Zwangsprostituierte gefangen gehalten hatte. Die Einblicke, die Jerusalem während des Prozesses in die Abgründe der Prostitution gewann, verarbeitete sie in ihrem Roman Der heilige Skarabäus. Im Jahr seines Erscheinens nahm Jerusalem zusammen mit ihrer Schriftstellerkollegin Gabriele Reuter an einer Veranstaltung des Deutschen Bundes für Mutterschutz über Illegitime Liebe in der Dichtung teil, auf der sie aus ihrer unveröffentlichten Novelle Lilis Sühne las.
Ende Juli 1901 ehelichte sie den Fabrikbesitzer Alfred Jerusalem, vom dem sie sich Ende 1910 wieder scheiden ließ, um den Naturwissenschaftler Dr. Viktor Widakovich heiraten zu können. Aus dem gleichen Grund sagte sie sich zu Beginn des Jahre 1911 vom jüdischen Glauben los und ließ sich taufen. Wenige Tage nach der Hochzeit brachen sie nach Argentinien auf; Widakovich hatte einen Ruf an die Universität von Buenos Aires erhalten. Doch wurde Else Jerusalem weder in Südamerika, wo sie die „Haremsstellung der Frau“ beklagte (zitiert nach Spreitzer, 578), noch in ihrer Ehe glücklich, so dass sie bald und so oft es ihr möglich war, nach Europa reist. Auf einer dieser Schiffsreisen lernt sie 1928 Albert Einstein kennen. Im gleichen Jahr trat sie der Weltliga für Sexualreform bei.
Am 20. Januar 1943 starb Else Jerusalem in Buenos Aires.
(Die Angaben zur Biographie Jerusalems folgen im Wesentlichen Brigitte Spreitzers bahnbrechenden Forschungsergebnissen, die ein helles Licht auf die bis dahin im Dunkeln liegenden Lebensabschnitte Else Jerusalems geworfen haben.)
(Text von 2016)
Verfasserin: Rolf Löchel
Links
Brigitte Spreitzer und andere über Else Jerusalem und ihren Skarabäus November 2016, radio dispositiv.
Rolf Löchel, Rezension von Else Jerusalems “Der heilige Skarabäus”, DVB Verlag. Wien 2016.
Literatur & Quellen
Borst, Eva. “Ichlosigkeit als Paradigma weiblichen Daseins - Prostitution bei Margarete Böhme und Else Jerusalem”, in: Karin Tebben. Hg. 1999. Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 114-137.
Francé-Harrar, Anni: Die “Freie Liebe” und der “Heilige Skarabäus”, in: dies.: So war's um 1900. Mein Fin de Siècle. Albert Langen Georg Müller Verlag, München und Wien 1962. S. 75-81.
Jerusalem, Else: Gebt uns die Wahrheit. Ein Beitrag unserer Erziehung zur Ehe, Hermann Seemann Nachfolger Leipzig 1902.
Jerusalem, Else: Komödie der Sinne (1902) Seemann Nachfolger: Leipzig 1902.
Jerusalem, Else: Der heilige Skarabäus. Ein Roman, S. Fischer: Berlin 1909.
Jerusalem, Else: Der heilige Skarabäus. Ein Roman, Amsel Verlag: Berlin 1954.
Jerusalem, Else: Der heilige Skarabäus. Roman, DVB Verlag: Wien 2016.
Jerusalem, Else: Steinigung der Sakya. Ein Schauspiel in 3. Akten, Erich Reiss Verlag: Berlin 1928.
Jerusalem, Else: Die Dreieinigkeit der menschlichen Grundkräfte. Verlag Die Gestaltung: Zürich 1939.
Kiewer, Annette: Else Jerusalem / Venus am Kreuz, in: Gudrun Loster-Schneider und Gaby Pailer (Hrsg.): Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730-1900). Francke Verlag, Tübingen und Basel 2006. S. 234-235.
Spreitzer, Brigitte: „Else Jerusalem – eine Spurensuche, in: Else Jerusalem: Der heilige Skarabäus. Roman, DVB Verlag: Wien 2016. S. 545-608.
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