geboren am 12. Mai 1929 in Budapest/Ungarn
gestorben am 19. Juli 2019 in Balatonalmádi, Ungarn
ungarische Philosophin
5. Todestag am 19. Juli 2024
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Ihr Vater, ein Budapester Rechtsanwalt, meinte, Agnes' Platz sei nicht der Haushalt, lieber solle sie Philosophin oder Komponistin werden. Seine Begründung: “Weil es das Absurdeste für ein Mädchen ist, und ich möchte, daß du das Absurdeste wirst.” Agnes Heller ist eine der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts geworden. Erst wollte sie Chemie studieren, dann Physik, dann hörte sie einen Vortrag von Georg Lukács und wußte sofort, daß sie das, was sie erst nicht verstand, verstehen lernen wollte. Sie wurde Schülerin und bald Assistentin von Lukács. Eine Universitätskarriere war ihr vorgezeichnet.
Als verfolgte Jüdin wurde sie nach 1945 überzeugte Zionistin, Marxistin und Kommunistin. Der historische Optimismus und die Erlösungsgedanken dieser Weltanschauungen hielten sie in Bann. Viele ihrer Familienmitglieder in Budapest, Wien und Brünn waren im KZ verschwunden. Ihr Vater kam in Auschwitz ums Leben. Sie und ihre Mutter waren mehrmals in akuter Todesgefahr. Die Pfeilkreuzler, eine nationalistische und antisemitische Gruppierung in Ungarn, waren mit Hilfe der deutschen Besatzung 1944 zu politischer Macht gelangt und übten einen blutigen Terror besonders gegenüber der jüdischen Bevölkerung aus.
Agnes und ihre Mutter versteckten sich in Budapest immer wieder in einem anderen Stadtteil, um den Razzien zu entgehen. Schließlich wurden sie doch gefangen und in einem langen Zug, neben ihnen marschierte der vierzehnjährige Imre Kertész, zum Bahnhof zur Deportation getrieben. Agnes schrie ihrer Mutter zu, mit ihr auf eine gerade vorbeifahrende Straßenbahn aufzuspringen. So konnten sie sich dies eine Mal retten. Auch stellten die Pfeilkreuzler die eingefangenen Juden ans Donauufer und erschossen sie, die Leichen fielen ins Wasser. Einmal standen auch Agnes und ihre Mutter aufgereiht am Donauufer. Agnes wollte ins Wasser springen, noch bevor sie ein Schuß traf, doch das Schießkommando beendete plötzlich seine Hinrichtungen, und Agnes und ihre Mutter konnten davonlaufen. Jahrelang litt Agnes Heller unter schweren Ängsten. Sie konnte weder ans Donauufer gehen noch die Donau auf einer Brücke überqueren. Die grauen Wasserwirbel der Donau verfolgten sie, Donau und Todesangst verschmolzen zu einem einzigen Alptraum.
1947 machte Agnes Abitur, 1949 heiratete sie und bekam eine Tochter. Diese Ehe wurde geschieden, bald darauf heiratete sie den Studenten und späteren Literaturkritiker und Philosophen Ferenc Fehér, mit dem sie häufig gemeinsam publizierte. 1964 wird ein Sohn geboren.
Agnes und ihr Mann sind Mitglieder der Budapester Philosophenschule um Georg Lukács, verkehren mit Künstlern und Intellektuellen und leben in diesen dürftigen Nachkriegsjahren – Agnes hatte immer Hunger und fror und hatte kaum etwas anzuziehen – von leidenschaftlichen Diskussionen über philosophische und literarische Themen im Kreise Gleichgesinnter und jüdischer LeidensgenossInnen. Alle waren sie von der Judenverfolgung geprägt – Fehér mußte als Zehnjähriger Leichen aus dem Ghetto karren – alle hatten sie nächste Angehörige im KZ verloren.
Agnes Heller publizierte sehr viel, kam bald mit der kommunistischen Partei in Konflikt, es wurde ihr mangelnde Linientreue vorgeworfen, sie wurde aus der Partei ausgeschlossen, verlor ihre Stelle an der Universität und unterrichtete fünf Jahre an einem Mädchengymnasium. Die engen Denkvorgaben der Partei akzeptierte sie nicht, Intrigen und Denunziationen beherrschten das ungarische Geistesleben. Heller bekam Publikationsverbot und wurde von ehemals Befreundeten ängstlich gemieden.
Der ungarische Aufstand 1956 ließ sie auf Befreiung von der kommunistischen Indoktrination hoffen, sie empfand diese Zeit als Wiedergeburt ihrer Person, doch letztlich folgten keine Erleichterungen. Gleichzeitig liebt sie ihr Ungarn so sehr, daß für sie eine Flucht ins Ausland nicht in Frage kommt. “Ich bin eine ungarische Jüdin und ich liebe die ungarische Sprache”, sagt sie mehrmals in ihrer Autobiographie. In ihrer Philosophie wollte sie, wie sie sagt, eine neue Welt errichten, “ich wollte mein ganzes Leben lang Auschwitz und den Stalinismus verstehen, deswegen beschäftigte ich mich immer wieder mit Geschichtsphilosophie und Moralphilosophie.”
1973/74 fand in Ungarn ein Philosophenkongress statt, bei dem bestellte Gutachter entscheiden sollten, ob in Hellers Werk konterrevolutionäre und rechtsabweichlerische Inhalte vorhanden seien. Erneut begann eine Treibjagd auf die Mitglieder der Budapester Schule. Hausdurchsuchungen, Bespitzelungen und in der Wohnung versteckte Wanzen machten das Leben unerträglich. Agnes und Ferenc verloren wieder ihre Stellen, hielten sich mit Übersetzungen über Wasser. 1978 schließlich gelingt es Heller und Fehér, nach Australien zu emigrieren, wo Heller eine Professur an der La Trobe University in Melbourne antritt. Über ihre Veröffentlichungen bei Feltrinelli in Italien war sie international bekannt geworden. Nun mußte sie lernen, in einer neuen Sprache ihre Gedanken zu formulieren. Sie genießt die Freiheit, bereist ganz Europa und besucht internationale Kongresse. Sie bekommt die australische zu ihrer ungarischen Staatsbürgerschaft hinzu. 1984 erhält sie die Hannah-Arendt-Professur an der New Yorker New School for Social Research (New School University). 1981 wird sie mit dem Lessing-Preis der Stadt Hamburg ausgezeichnet, 1995 mit dem Hannah-Arendt-Preis der Stadt Bremen. Es folgen Gastprofessuren, Gastvorträge und viele Auszeichnungen. Vom Marxismus und Kommunismus hatte sie sich schon längst abgewendet, wie auch jeder andere Ismus ihr suspekt geworden ist. Sie begründet jetzt ihre persönliche Philosophie. Ausgangspunkt ihres Denkens sind Bedürfnisse, Konflikte und Probleme des täglichen Lebens und die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Moderne.
Gegenwärtig ist Agnes Heller im Ruhestand. Ein halbes Jahr lebt sie in Budapest, die andere Hälfte in New York. Neben ihren wissenschaftlichen Interessen widmet sie sich der Musik, der Literatur und bildenden Kunst und den Pflichten als Fußballfan. (Text von 2003)
Agnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Balatonalmádi, Ungarn.
Verfasserin: Sibylle Duda
Zitate
„Ági, lehn dich nicht aus dem Fenster, der Ruß fliegt dir in die Augen“, hatte ihre Mutter oft gesagt. Ágnes Heller hat sich ihr Leben lang exponiert. Um die gelbe Straßenbahn am Donauufer zu erblicken, die der am 12. Mai 1929 geborenen Philosophin bis heute Heimatgefühle evozieren: Budapest, die Heimatstadt des Vaters, der später deportiert worden war, das Donauufer, wo der Fluss zur Zeit der Pfeilkreuzler blutig rot floss und die erste Lukács-Vorlesung, bei der sie nichts verstand, „aber wusste, dass es das Wichtigste war, was ich je hörte“. Sie wird Georg Lukács’ Meisterschülerin und seine Vertraute. Sie erzählt von der Euphorie vor 1956 und vom Nebelkloster, der zur Kádár-Zeit bespitzelten und ausgegrenzten Budapester Schule, von Parias und Parvenüs und von der für sie existenziellen Frage, warum die Wahrheit für den Philosophen lebenswichtig ist. Berufsverbot, Bespitzelung, Emigration. 1977 geht Ágnes Heller nach Australien. 1988 übernimmt sie Hannah Arendts Lehrstuhl an der New School in New York. Ágnes Heller berichtet von Begegnungen mit Ernst Bloch und Jürgen Habermas und Millionären wie George Soros. Und von der Schönheit guter Menschen spricht die Grand Dame der ungarischen Philosophie. „Gute Menschen“, so Ágnes Heller im wieder frisch geknebelten Budapest „sind unsichtbar.“ (Begleittext zur Sendung “Die Schönheit von guten Menschen: Eine Lange Nacht mit Ágnes Heller” von Jochanan Shelliem im Deutschlandfunk zu Agnes Hellers 90. Geburtstag am 12. Mai 2019)
Literatur & Quellen
Heller, Agnes. 1970. Alltag und Geschichte - Zur sozialistischen Gesellschaftslehre. Neuwied. Luchterhand.
Heller, Agnes. 1980. Theorie der Gefühle. Hamburg. VSA.
Heller, Agnes. 1988. Der Mensch der Renaissance. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Frankfurt/M. Suhrkamp.
Heller, Agnes. 1995. Ist die Moderne lebensfähig? Frankfurt/M. Campus.
Heller, Agnes. 1998. Ein Essay über die Schönheit der Freundschaft, in: Querelles, Jahrbuch für Frauenforschung, Band 3. Stuttgart. Metzler. S.48-61.
Heller, Agnes. 1999 [1998]. Der Affe auf dem Fahrrad: Eine Lebensgeschichte. Bearbeitet von János Köbányai. Aus dem Ungarischen von Christian Polzin & Irene Rübbert. Berlin; Wien 1999. Philo.
Heller, Agnes. 2002. Die Auferstehung des jüdischen Jesus. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Berlin; Wien. Philo.
Jöhl, Theres. 2001. Agnes Heller: Paradoxe Freiheit. Eine geschichtsphilosophische Betrachtung. Oberhausen. Athena.
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